Unter den Sternen von Rio
noch besonders kostbar war, an dem jedoch das Herz ihrer Mutter hing. Wenn Dona Vitória entdeckte, dass ihr heißgeliebtes Porzellandöschen zerbrochen war, wäre sie untröstlich.
Nach acht weiteren Anläufen schienen Ana Carolinas dilettantische Reparaturversuche endlich zu fruchten. Die Bruchkanten waren zwar noch deutlich sichtbar, aber wenn erst der Deckel wieder auf dem kleinen Behältnis saß, der gottlob heil geblieben war, würde man vielleicht nichts merken. Wieso hatte sie es aber auch unbedingt aus der Vitrine nehmen müssen? Es hätte doch gereicht, es durch die schützende Glasscheibe hindurch zu betrachten und darüber zu sinnieren, welche Erinnerungen ihre Mutter wohl mit diesem Stück verbinden mochte.
Es gab nicht viel, woran Dona Vitória hing. Um genau zu sein, waren es ganze zwei Gegenstände im Haus, die ihr heilig waren: besagtes Porzellandöschen sowie eine Halskette mit einem Anhänger in Form eines Kaffeestrauchs. Alle anderen Dinge beurteilte sie einzig nach ihrem praktischen Nutzen. Erst heute Morgen hatte sie im Zimmer ihrer Tochter gewütet und dabei alles aussortiert, was in ihren Augen nicht der Aufbewahrung lohnte.
»Was willst du denn noch mit diesem alten Fetzen? Man trägt das heute nicht mehr. Und es ist ja nicht so, als wäre er über und über mit echten Perlen besetzt. Der kommt weg.« Damit hatte sie nach dem Kleid gegriffen, in dem Ana Carolina vor Jahren einen rauschenden Ball getanzt hatte, und es achtlos in einen Beutel gestopft.
»Mãe, nicht! Ich liebe dieses Kleid.«
»Papperlapapp. Was soll denn dein zukünftiger Ehemann davon halten, wenn du unmodische Kleider mitbringst, nur weil sie dich an deinen ersten Kuss erinnern? Einen Kuss wohlgemerkt, den du geschmackloserweise mit diesem Nichtsnutz Carlos ausgetauscht hast.«
Ana Carolinas Herzschlag hatte eine Sekunde lang ausgesetzt. Woher wusste ihre Mutter das nun wieder? Konnte man vor dieser Frau denn gar nichts geheim halten?
»Jetzt schau mich doch nicht so erschrocken an. Hast du etwa gedacht, so etwas bliebe vor mir verborgen?« Dona Vitória hatte das Kleid mit Nachdruck noch etwas tiefer in den Beutel gepresst. »So, weiter. Ich habe nicht viel Zeit, Bankdirektor Gonçalves kommt zum Mittagessen.«
Diese Unterhaltung lag erst wenige Stunden zurück. Der Bankdirektor war nach dem
digestivo
– bei dem Ana Carolinas Anwesenheit nicht erwünscht war – mit roten Wangen und mit unsicherem Gang zu seinem Auto gewankt, und ihre Mutter hatte sich mit triumphierendem Lächeln in ihr Arbeitszimmer zurückgezogen. Ana Carolina hatte sich nachdenklich vor die Vitrine gestellt und sich zum wiederholten Mal gefragt, was ihr Vater an einer Frau fand, die so kalt, berechnend und herzlos war. Vielleicht hatte dieses Rätsel den Impuls ausgelöst, sich das Porzellandöschen genauer anzuschauen.
Hinuntergefallen war es jedenfalls in dem Augenblick, in dem Mariazinha den Salon betrat, und zwar … in Ana Carolinas altem Ballkleid! Die Unverfrorenheit dieses Mädchens hatte Ana Carolina nicht zum ersten Mal wütend gemacht.
»Was rennst du hier am helllichten Tag in meinem Ballkleid herum? Willst du tanzen, anstatt zu arbeiten? Los, verschwinde! Und lass dich vor mir nie wieder in meinen ausgemusterten Kleidern blicken!«
Das Hausmädchen hatte dummdreist gegrinst, geknickst und sich verzogen, nur um wenige Augenblicke später wieder hereinzuplatzen: »Soll ich die Scherben auffegen, Senhorita?«
»Geh und hol mir etwas Kitt beim Töpfer-José. Sag ihm, ich bezahle ihn, wenn ich das nächste Mal in der Nähe bin. Und kein Sterbenswörtchen zu Dona Vitória.«
Nun, da die Porzellandose wieder repariert war, stellte Ana Carolina sie übervorsichtig in die Vitrine zurück und begutachtete ihr Werk. Nein, auf den ersten Blick würde man den Schaden nicht bemerken. Und mehr als einen oberflächlichen Blick würde ihre Mutter dem alten Ding ja wohl kaum gönnen.
Am nächsten Morgen kämpfte sich Ana Carolina abermals durch die Berge an Kleidung in ihrem Schrank. Viele Teile warf sie achtlos auf den Boden, um sie war es nicht schade. Doch bei einigen Kleidern und Accessoires zögerte sie. Die feine Handtasche, die sie zu ihrem ersten Rendezvous dabeigehabt hatte? Das federbesetzte Stirnband, das vor drei Jahren in Paris der letzte Schrei gewesen war? Oder die abgewetzten Ballerina-Schühchen, die sie an ihre früheste Jugend erinnerten? Waren sie es wert, dass man sie in Ehren hielt? Oder waren sie nur Ballast,
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