Unter den Sternen von Rio
denn Klavier spielen konnte sie als höhere Tochter mit einschlägiger Erziehung durchaus gefällig. Sie hatte tatsächlich eine Stelle ergattert, wo man es mit den Formalitäten nicht so genau nahm und man ihr den mageren Lohn wöchentlich in bar auszahlte, allerdings nicht als Klavierspielerin, sondern als Garderobiere in einem illegalen Kasino. Sie arbeitete ausschließlich während der Matineen, in der Zeit also, die sie angeblich an der Fakultät verbrachte. Fast ein halbes Jahr lang war es gutgegangen. Dann hatte ein Besucher sie als die Tochter von Dona Vitória identifiziert und sein Wissen sogleich gewinnbringend an die berühmte Millionärin weitergereicht. Ana Carolina war von ihrem wutentbrannten Vater hinter ihrem Garderobentresen hervorgezerrt worden, während ihre Mutter alles unternahm, um den unvermeidlichen Gerüchten Einhalt zu gebieten.
Und der Mann, der Ana Carolina erkannt und verpfiffen hatte, wunderte sich, warum ihm fortan nur noch Pech im Leben beschieden war.
Dennoch war Ana Carolinas Leben auch ohne eine erfüllende Arbeit nicht ereignislos. Gehörte man zu den oberen Tausend, hatte man alle Hände voll zu tun, um seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Es galt Diners zu organisieren und zu Kammermusikabenden einzuladen. Man spielte Tennis und Bridge, man besuchte Lesungen oder Technik-Ausstellungen und ließ sich regelmäßig bei den Empfängen der anderen reichen Leute sehen. Die Damen überboten einander in ihren Wohltätigkeitsbemühungen. Vor allem aber wetteiferten sie darin, wer modisch die Nase vorn hatte: Es wurden Unsummen für die neuesten Magazine aus Paris ausgegeben, und ganze Armeen von Schneiderinnen taten nichts anderes, als die abgebildeten Kreationen zu kopieren. Die Mutigsten ließen sich sogar knappe, geringelte Badeanzüge nähen, in denen sie sich und ihre bis zur Mitte der Oberschenkel nackten Beine an den herrlichen Stränden der Hauptstadt zeigten. Noch immer zog man in einem solchen Badeanzug die nicht immer wohlwollenden Blicke der anderen Ausflügler auf sich.
All diese Dinge tat auch Ana Carolina. Sie kümmerte sich außerdem hingebungsvoll um die Gestaltung des Interieurs im elterlichen Hause. Auf ihre Anregung hin waren die wuchtigen Tropenholzmöbel aus dem vergangenen Jahrhundert auf den Dachboden geschafft und durch modernere Stücke ersetzt worden. Der neue Einrichtungsstil, der erst viele Jahre später den Namen »Art déco« erhalten sollte, war für die Hitze Rios wie geschaffen, denn die klaren Linien und die kühle Schnörkellosigkeit wirkten sich auf den Betrachter wie eine frische Brise aus.
Ana Carolina hatte gedankenlos ein Kleidungsstück nach dem anderen aus ihrem Schrank gezerrt und auf den Boden geworfen, als sie plötzlich innehielt. Sie bückte sich und hob ein Kleid auf, um es genauer zu betrachten. Sie hatte es im letzten Sommer gekauft, aber nur einmal getragen. Nachdem eine Freundin es negativ kommentiert hatte – »du siehst ja aus wie ein Giftfrosch« –, war ihr die Lust daran vergangen. Jetzt aber gefiel ihr das grasgrüne Stück wieder. Es sah fröhlich aus und dank seines eleganten Schnittes durchaus nicht albern. Spontan schälte sie sich aus ihren Sachen und zog das neu entdeckte Kleid an. Wie hübsch, dachte sie. Die frische Farbe hob ihre Stimmung merklich. Warum trug sie nicht öfter bunte Kleidung? Immer nur gedeckte Töne, Mauve und Beige und Grau – da musste man ja schwermütig werden. Dieses Kleid würde sie heute anbehalten. Es war wie geschaffen für den netten kleinen Ausflug, zu dem Henrique sie nachher abholen würde.
Aber welche Schuhe trug sie dazu? Sie wühlte in ihrem Schuhschrank, warf sofort einige Paar auf den großen Kleiderhaufen und entdeckte schließlich ein Paar schwarze Sandalen, die gut zu dem Kleid passen würden. Dazu ein schwarzes Samtband um den Hals, und fertig wäre ein wunderbares Sommer-Ensemble, das ihr schwarzes Haar und die grünen Augen perfekt zur Geltung bringen würde. Versöhnt mit sich und der Welt drehte sie sich ein paarmal vor dem großen Spiegel, bevor sie sich auf den Weg nach unten machte. Sie hatte Lust, sich so ihrem Vater zu zeigen und sich ein Kompliment von ihm anzuhören. Darin war er der Beste.
Im Erdgeschoss traf sie zunächst auf das Hausmädchen, dem sie Anweisung gab, sich um die aussortierten Kleider und Schuhe zu kümmern. Sie könne damit nach Gutdünken verfahren, solange sie keine Tanzkleider in der Küche trug. Und sie möge
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