Unter den Sternen von Rio
sie nicht, und sie hätten es auch nicht für möglich gehalten. Der Mann hatte ihrer Ansicht nach den Herrgott herausgefordert, und die Strafe hatte nicht lange auf sich warten lassen.
Wenige Minuten nach dem Unglück waren sie an der Stelle, an der das Flugzeug ins Wasser eingetaucht war und an der nun einzelne Wrackteile verstreut in den Wellen trieben. Einer der Fischer, ein junger Mann namens Inácio, sprang beherzt in die Fluten, um nach dem Piloten zu suchen. Inácio war ein geübter Schwimmer und hervorragender Taucher, der bis zu drei Minuten unter Wasser bleiben konnte. An der Absturzstelle war das Wasser seicht, so dass es ihm die Suche erleichterte. Und tatsächlich: Er fand den Piloten. Er hing leblos in seinem Gurt. Inácio befreite ihn mit dem Messer, das er immer bei sich trug, und schleppte ihn nach oben. Dort hievte man den schlaffen Körper an Bord des Fischerbootes und legte ihn mitten in den Fang des heutigen Morgens.
»Der ist hin«, meinte der älteste der drei Männer an Bord.
»Wer weiß?«, sagte Inácio keuchend, nachdem man auch ihn ins Boot gezogen hatte. »Na los, João, pump ein bisschen, wie du es bei dem Kind von Maria José gemacht hast.«
»Lohnt nicht.«
»Himmelherrgott noch mal, dann mach ich es eben.« Und schon stürzte sich Inácio auf den reglosen Körper und massierte das Herz wie wild.
»So nicht. Geh, lass mich schon machen«, sagte der Alte.
Schweigend sahen die anderen ihm dabei zu, wie er regelmäßig und mit ganzer Körperkraft den Brustkorb des Piloten zusammenpresste. Man hörte die Rippen brechen. Dann ging der Alte zu einer Mund-zu-Mund-Beatmung über, indem er die Nase des Absturzopfers zuhielt und ihm Luft durch den Mund in die Lungen blies.
»Ist ja widerlich«, meinte der dritte Fischer.
»Sei still«, fuhr Inácio ihn an. »So hat er das damals bei dem Kind auch gemacht – und es hat überlebt.«
»Ekelhaft ist es trotzdem. Ich schätze, der Pilot hätte nicht gewollt, dass ihn ein stinkender Alter küsst, während er tot da liegt.«
»Der ist nicht tot«, beharrte Inácio auf seiner Einschätzung. Irgendwie fühlte er sich für das Überleben des Mannes persönlich verantwortlich, nachdem er ihn aus dem Wasser und dem Wrack geborgen hatte. Allerdings war es schwer nachzuvollziehen, wie er zu dieser Überzeugung gelangt war. Das Gesicht des Mannes war übersät von schweren Wunden, sein linkes Bein war unnatürlich verdreht, und er blutete aus einem klaffenden Schnitt an der Schulter. Selbst wenn er noch geatmet hätte, wäre er dem Tod näher gewesen als dem Leben.
»Gib mal dein Hemd«, forderte Inácio den dritten Fischer auf. »Wir müssen die Blutung …«
Ein Aufstöhnen ihres Patienten ließ ihn innehalten. Der Alte drehte den Piloten auf den Bauch und schlug ihm fest auf den Rücken. Ein Schwall Wasser ergoss sich auf die Fische, inmitten derer sich die ganze Wiederbelebung abgespielt hatte.
»Na also«, meinte der Alte lakonisch und zog sich von dem Totgeglaubten zurück, damit Inácio ihm seinen improvisierten Verband anlegen konnte.
Auch Inácio ließ sich seine Freude über die gelungene Rettung nicht anmerken. »Hab’s doch gleich gesagt«, meinte er trocken.
Neugierig betrachteten sie den Piloten, der nach dem ganzen Gespucke allmählich zur Besinnung kam. »Schöner Fang«, krächzte er. Und jetzt endlich lachten die drei Fischer laut los, mehr vor Erleichterung denn vor Begeisterung über die treffende Bemerkung.
António erwachte in einem Krankenhausbett. Das erste Gesicht, das er sah, war das seiner Mutter. Sie wirkte verhärmt. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, war abgemagert und hatte strähniges Haar. Er erschrak über ihren Anblick, er kannte Dona Madeleine nicht anders als gepflegt, rosig und ausgeruht.
»Oh, António, Schatz! Du bist aufgewacht!«, rief sie unter Tränen, bevor sie sich über ihn beugte und ihn mit kleinen Küssen bedeckte.
»Was … was ist passiert?«, fragte er leise. Seine Stimme fühlte sich an, als hätte er sie jahrelang nicht benutzt.
»Weißt du das nicht mehr? Du bist abgestürzt, aber du konntest gerettet werden. Ach, Schatz, es war eine schreckliche Zeit, ich dachte, du würdest sterben. Wir alle haben für dich gebetet, und die Ärzte haben alles Menschenmögliche gegeben.«
»Wie lange liege ich hier schon?«
»Fast zwei Wochen.«
»Welcher Tag ist heute?«
»Montag, der 17 . Mai 1926 .«
Erschöpft von den wenigen Worten, die er gesprochen hatte, fielen António
Weitere Kostenlose Bücher