Unter den Sternen von Rio
schon wieder die Augen zu. Er spürte noch, wie seine Mutter ihm aufmunternd die Hand drückte, dann fiel er in einen tiefen Schlaf.
Als er das nächste Mal erwachte, standen mehrere Personen um sein Bett und beratschlagten sich. Er sah zwei Männer in weißen Kitteln, eine Krankenschwester sowie seine Eltern.
»… sonst müssen wir amputieren«, hörte er einen der Ärzte sagen.
Unwillentlich entfuhr Antónios Kehle ein leises Stöhnen. Sofort unterbrachen die Anwesenden ihr Gespräch und schauten ihn an. Seine Mutter war als Erste bei ihm. »Oh, mein lieber Schatz!«, schluchzte sie.
»António, Junge«, sagte sein Vater betont jovial, als habe er ihn nur ein paar Stunden nicht gesehen. Doch seine Stimme verriet ihn. Sie zitterte.
»Was ist hier los?«, wollte António wissen. »Will mir einer dieser Quacksalber irgendwelche Körperteile abschneiden?«
»Ich darf mich vorstellen: Professor Doktor Schneider«, sagte der ältere Arzt mit starkem deutschem Akzent.
»Der Professor ist Experte auf dem Gebiet der Kriegsverletzungen und der Prothetik. Er war an der Berliner Charité, bevor er nach Porto Alegre emigrierte. Von dort haben wir ihn extra für dich geholt.«
»Und ich bin Doutor João Henrique de Barros«, sagte der andere Arzt, der ebenfalls schon seine sechzig Jahre alt sein mochte. »Sie sind bei uns in besten Händen.«
»Was muss denn amputiert werden?«, fragte António.
»Nichts!«, riefen sein Vater und Doutor de Barros aus, während die anderen beiden gleichzeitig sagten: »Der linke Unterschenkel.« Nur die Krankenschwester enthielt sich jeglichen Kommentars.
»Aha«, meinte António und sank wieder in seine Kissen. »Unentschieden. Und was meinen Sie, junge Frau?«, wandte er sich müde an die Schwester.
»Ich glaube, Sie können das Hospital intakt verlassen.«
»Schön. Dann glaube ich das auch«, sagte António und zwinkerte ihr zu. »Lasst ihr mich kurz allein?«, bat er die anderen. »Ich brauche ein bisschen Ruhe, bevor ihr mich mit den unerfreulichen Details konfrontiert.«
Man fügte sich seinem Wunsch. Vor der Tür hörte António noch die Stimmen seiner Eltern und der Ärzte, die sich offenbar nicht einig waren, wie man António therapieren sollte, und die sich eine hitzige Diskussion lieferten.
António schloss die Augen und versuchte die gedämpften Stimmen auszublenden. Was war geschehen? Er erinnerte sich an nichts, an gar nichts mehr! Wenn er, wie man ihm berichtet hatte, mit dem Flugzeug abgestürzt war, musste er doch noch irgendeine Erinnerung an das Unglück haben. Aber da war vollkommene Leere. Er durchforstete sein Gedächtnis, strengte sich an, um irgendein Bild heraufzubeschwören, das mit dem Unfall zusammenhing, doch vergeblich. Einzig an einen durchdringenden Fischgeruch konnte er sich erinnern. Und an sein vergebliches Warten im Restaurant »A Vela«. Alles danach war wie ausgelöscht.
Es war ein schreckliches Gefühl – schlimmer konnte die Amputation eines Unterschenkels auch nicht sein. Er fühlte sich eines wichtigen Teils seiner selbst beraubt. Es machte ihm Angst. Was, wenn die Erinnerungen nicht zurückkehrten? Die Vorstellung, dass auf immer eine zweiwöchige Lücke in seinem Gedächtnis klaffte, war mehr als beunruhigend. Was hatte er getan in dieser Zeit? Was gedacht und was empfunden? Würde ihn eines Tages jemand ansprechen und augenzwinkernd auf »diesen Tag im Club« anspielen, der in seinem Hirn wie ausradiert war? Würde ihm in ein paar Monaten ein hübsches Hausmädchen ihren dicken Bauch präsentieren und behaupten, er habe sie in diese Lage gebracht? Er würde nicht einmal dagegen protestieren können, denn es mochte ja durchaus der Wahrheit entsprechen, obwohl er eigentlich nicht der Typ Mann war, der seine Macht ausnutzte, um sich mit Untergebenen einzulassen. Das heißt – was war er denn für ein Typ Mensch? Konnte er überhaupt noch sicher sein, dass seine anderen Erinnerungen ihn nicht trogen? Vielleicht hatte er bei dem Absturz eine irreparable Schädigung des Hirns erlitten? Es war in jedem Fall eine grässliche Situation, in der er sich da befand. Am besten sagte er keiner Menschenseele etwas davon, dann würde auch keiner auf die Idee kommen, diese Amnesie zu seinen Gunsten ausnutzen zu können.
António tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Wahrscheinlichkeit hoch war, sein Gedächtnis zurückzugewinnen. Er hatte schon von solchen Aussetzern gehört, die als Folge schwerer Unfälle oder traumatisierender Erlebnisse
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