Unter den Sternen von Rio
Augenwinkeln.
Dann nahm er plötzlich ihren Arm und sagte: »Kommen Sie, Senhorita Ana Carolina, lassen wir die Toten ruhen und uns den irdischen Freuden widmen. Was halten Sie von einem Kaffee und ein paar
doces
dazu? Unsere süßen Törtchen sind weltberühmt.«
Schweigend gingen sie zurück zum Haupteingang des Friedhofs, vor dem eine Luxuslimousine mit Chauffeur auf sie wartete. Der Wagen brachte sie in die Innenstadt, zu dem Kaffeehaus »A Brasileira«. Caro kannte das Lokal von ihrem früheren Aufenthalt in Lissabon, es war sehr mondän, sehr elegant und bot vor allem eine vorzügliche Auswahl an
pastéis,
Kuchen, Torten und wunderbar zubereiteten Kaffeespezialitäten an, von denen man in Brasilien nur träumen konnte.
»A brasileira«,
sagte Don Leopoldo, »die Brasilianerin. So nannte ich sie manchmal, Ihre liebe Großmutter. Es hat sie jedes Mal auf die Palme gebracht.«
Caro lachte. »Ja, sie hat sich immer als Portugiesin gefühlt.«
Don Leopoldo gab noch weitere harmlose kleine Details aus seiner Freundschaft mit Dona Alma preis, aus denen sich jedoch, Stück für Stück, ein Bild zusammensetzen ließ, das von einer großen Verbundenheit und inniger Zuneigung sprach. Erst als sie ihre Süßspeisen längst verzehrt hatten, kam Don Leopoldo auf das Erbe zu sprechen. Es war Caro unangenehm, sie kam sich vor wie eine Erbschleicherin. Sie hätte gern noch mehr über Dona Alma und ihr Verhältnis zu diesem kultivierten Herrn erfahren, andererseits wollte sie natürlich auch ihr unerwartetes Erbe antreten. Es war eine sehr schwierige Gratwanderung, persönliche Empfindungen und bürokratische Angelegenheiten zugleich zu besprechen, ohne allzu begierig auf das Erbe zu erscheinen und ohne die Gefühle dieses Mannes zu verletzen.
»Ich war nicht nur Dona Almas Freund, sondern auch ihr Anwalt. Daher verwalte ich jetzt auch ihren Nachlass. Wir können darüber ganz ohne Sentimentalitäten sprechen.« Und dann zählte Don Leopoldo auf, was Dona Alma ihrer Enkelin vermacht hatte. Immobilien gehörten ebenso dazu wie eine kostbare Münzsammlung, antikes Silber, Barockgemälde und Rokokomöbel. Caro kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es war ein Vermögen!
»Einen Teil davon«, erläuterte Don Leopoldo, »hat sie im Laufe der Jahre von dem erworben, was ihre Tochter, Dona Vitória, ihr hat anweisen lassen. Es war eine sehr großzügig bemessene Rente, und Dona Alma hat sparsam gelebt. Ein paar ihrer Güter waren auch Geschenke von mir, und ich bin froh, dass sie jetzt in Ihren Besitz übergehen. Ich könnte mir keine bessere Verwendung dafür vorstellen.«
Wenige Tage später saß Caro im Zug nach Paris. Sie war mit Don Leopoldo so verblieben, dass er sich um den Verkauf der Erbschaft – mit Ausnahme des Sommerhauses in Sintra, das sie vorerst behalten wollte – kümmerte und ihr den Anteil, der nach Abzug seiner Kosten übrig blieb, auf ein Bankkonto überweisen würde, das sie erst noch in Paris eröffnen musste. Einige wenige Teile nahm Caro als Andenken direkt mit, unter anderem ein paar Schmuckstücke sowie ein sehr schönes Miniaturporträt ihrer Großmutter in jungen Jahren. Es stimmte, die Ähnlichkeit zwischen Dona Alma, Dona Vitória und ihr selber war frappierend, obwohl jede von ihnen eine andere Augenfarbe hatte: braun waren die ihrer Großmutter gewesen, blau waren die ihrer Mutter, grün ihre eigenen. Immerhin etwas, dachte Caro erleichtert, es gab kaum eine deprimierendere Vorstellung als die, man könne nicht das Individuum sein, für das man sich hielt, sondern schlicht eine Kopie seiner Vorfahren.
Als sie nach der geisttötend langweiligen Eisenbahnfahrt endlich die Gare de Lyon erreichte, den Südbahnhof, lagen all diese Gedanken weit hinter ihr. Das war der Vorteil von langen Reisen, dass sie einem erlaubten, auch mit der Seele Abstand zu gewinnen. Ihr kleiner Sohn war trotz der dreitägigen Fahrt im Schlafwagen und in dem beengten Zug, die er meist in Gesellschaft der
babá
verbracht hatte, erstaunlich guter Dinge, und sie selber war es ebenfalls. Sie freute sich auf Paris, auf Marie und Maurice, auf Tante Joana und Onkel Max und auf das, was vor ihr lag. Die Zukunft mochte alles bringen, Gutes wie Schlechtes. Doch im Augenblick gestattete sich Caro nur, an das Positive zu denken. Wie verheißungsvoll ein solcher Neuanfang war!
Die ganze Familie war zu ihrem Empfang am Bahnhof erschienen, und die Begrüßung fiel außerordentlich herzlich aus. Alle drückten und küssten den
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