Unter den Sternen von Rio
kleinen Alfred, bis der sich schließlich irgendwann mit einem ohrenbetäubenden Brüllen alle weiteren Annäherungsversuche verbat. Die Kinderfrau eilte herbei, um das Kind zu trösten und in ihren vertrauten Armen zu beruhigen, doch Caro kam ihr zuvor. War es eine plötzliche mütterliche Anwandlung oder vielmehr, wie sie sich mit leichten Gewissensbissen eingestand, die Tatsache, dass aller Augen auf sie gerichtet waren und sie so tun wollte, als sei sie eine gute Mutter? Jedenfalls nahm sie das Kind, und im selben Moment hörte es auf zu schreien. Caro hätte heulen mögen vor Erleichterung darüber, dass das Geschrei ein Ende hatte – und vor Freude darüber, dass sie ihrem Alfredinho vielleicht doch keine so schlechte Mutter war. Er fühlte sich bei ihr geborgen, und dieses bedingungslose Vertrauen, das das Kind in sie setzte, erfüllte sie mit Scham und Stolz gleichermaßen.
»Ein Bild für die Götter!«, freute Tia Joana sich.
»Ja, wie die Madonna mit dem Jesuskind«, kommentierte Marie launig. Sie und Maurice hatten noch keinen Nachwuchs, was sie allmählich mit Beunruhigung erfüllte.
»Sollen wir?«, fragte Caro. Das Gewicht des Kindes auf ihrem Arm war ungewohnt und lästig, und sie hatte keine Lust, noch länger auf dem zugigen Bahnsteig zu stehen und sich von ihrer Verwandtschaft anstarren zu lassen. »Ich kann es kaum erwarten, endlich ein gepflegtes Wannenbad zu nehmen und aufzutauen.«
Caro fuhr bei Maurice und Marie im Auto mit, Alfredinho und die Kinderfrau bei Joana und Max. In dieser Aufteilung, fand Caro, hätten sie auch gern wohnen können, sie bei ihrer Cousine und deren Mann, ihr Sohn und seine Betreuerin bei Tante Joana. Damit wären alle Beteiligten wahrscheinlich hochzufrieden gewesen, denn Marie hatte, so wie Caro sie kannte, genauso wenig Lust auf Kindergeschrei wie sie selber, während Tante Joana sich förmlich darum riss, den Kleinen in ihrer Nähe zu haben. Aber da Marie und Maurice eine viel kleinere Wohnung hatten als Joana und ihr Mann, würde es wohl darauf hinauslaufen, dass Caro samt Kind und
babá
bei ihrer Tante wohnen würde. Dort gab es nicht nur ein Gästezimmer und einen kleinen Personaltrakt, sondern, seit Marie dort nicht mehr lebte, auch deren altes Zimmer, das riesig war. Caro tröstete sich damit, dass es zu Marie ja nicht weit war. Sie wohnte keine zwei Blocks entfernt von ihrem Elternhaus.
Als angenehm empfand Caro, dass sie hier keinen feindseligen Blicken ausgesetzt war wie etwa bei den Familien ihrer Brüder. Alle nahmen die Situation so an, wie sie war, ohne sie oder gar das Kind für die
sittliche Verfehlung
zu bestrafen. Dennoch musste sie das Thema zur Sprache bringen, um etwaigen Missverständnissen in der Zukunft vorzubeugen. Beim gemeinsamen Mittagessen sagte sie deshalb: »Ich werde mich in Paris als Witwe ausgeben. Und wenn António noch die Zeit gehabt hätte, mich vor seinem Tod zu heiraten, wäre ich ja auch eine. Ich möchte euch bitten, anderen Leuten gegenüber bei dieser Geschichte zu bleiben.«
Alle nickten ernst, und Marie setzte ein feierliches Gesicht auf, als sie, stellvertretend für ihre Familie, hoch und heilig versprach, diese und nur diese Version zu verbreiten. »Aber wie heißt du denn dann? Sollen wir dich als Witwe Carvalho vorstellen? Oder willst du dich weiterhin Castro da Silva nennen?«
Darüber hatte Caro noch gar nicht so genau nachgedacht. Spontan jedoch erschien es ihr falsch, den Namen ihres Geliebten anzunehmen. Er war ihr zu wenig vertraut – am Ende würde jemand sie bei diesem Namen rufen und sie würde nicht begreifen, dass sie gemeint war. »Ich heiße wie immer, nur in der für die Franzosen einfacher auszusprechenden Kurzfassung: Caro da Silva.«
»Caro Castro klingt ja auch ein wenig zu sehr nach Künstlername«, bemerkte Marie und plapperte direkt im Anschluss weiter über eines ihrer Lieblingsthemen. Sie unterhielt die ganze Runde mit dem Klatsch, den sie über Berühmtheiten mit ihren falschen Namen, falschen Zähnen und falschen Geburtsdaten wusste, und alle waren froh darüber, dass die heikle Situation des Gastes darüber schnell wieder in den Hintergrund rückte.
Das alles lag nun einige Wochen zurück. Inzwischen hatte Caro es geschafft, ein eigenes Bankkonto einzurichten, was ohne die Hilfe eines männlichen Angehörigen gar nicht so einfach gewesen wäre. Sie hatte einen Teil der Erlöse aus ihrer von Don Leopoldo veräußerten Erbschaft erhalten, und sie hatte sich gerade eine eigene
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