Unter den Sternen von Rio
nicht verkleiden oder so«, versuchte Marie sie umzustimmen.
»Hm.«
»Und wir könnten noch ein paar andere Landsleute von dir zusammentrommeln. In einer Gruppe macht so etwas immer mehr Spaß, und ihr Brasilianer seid ja gut im Feiern.«
»Ist ja gut, Marie. Ich komme mit.«
Am Karnevalsdienstag machten sie sich zu fünft auf den Weg in das kleine Theater im Pigalle-Bezirk. Ihre Stimmung war von Anfang an gut, aber sie wurde geradezu euphorisch, als sie auf der Straße einen Mulatten sowie zwei schwarze Musiker sahen, die für die Show warben. Der Mulatte war als Papagei verkleidet und tanzte ein paar Sambaschritte zu dem simplen Liedchen, das die beiden anderen auf
pandeiro, cavaquinho, agogô
und
apito
spielten. Trotz der Schlichtheit dieser Musikinstrumente gelang es den beiden Musikern, eine ganz und gar brasilianische Stimmung damit zu erzeugen. Dazu rief der Papagei immer wieder die Passanten dazu auf, diese sensationelle Veranstaltung zu besuchen und sich vom Rhythmus der Leidenschaft in die Hitze Rios entführen zu lassen. Er bibberte dabei vor Kälte. Caro, Marie, Maurice sowie ein Pärchen aus São Paulo schütteten sich aus vor Lachen über diesen armen Hampelmann, der die undankbare Aufgabe hatte, Gäste in das Theater zu locken. Aber seine Mission schien er zu erfüllen: Vor der Kasse hatte sich bereits eine Schlange gebildet.
Als sie den Zuschauersaal betraten, stockte ihnen allen für einen Moment der Atem. Das Theater war über und über mit blau-gelb-grünen Girlanden sowie mit jeder Menge Grünzeug geschmückt worden, dazwischen verteilt waren Käfige mit exotischen Vögeln. Das ganze Arrangement war mit einfachsten Mitteln gestaltet worden, doch mit Hilfe geschickter Beleuchtung entstand der Eindruck eines bunten Dschungels. Im Hintergrund spielte das Orchester schlichte Karnevalsmelodien, die dank der eingesetzten Rasseln und Pfeifen ziemlich authentisch klangen.
»Als ich das letzte Mal hier war«, sagte Marie in beinahe entschuldigendem Ton, »sah es viel … verlebter aus.«
»Es ist schön«, staunte Caro.
Sie wurden an ihren Tisch geführt und ließen sich vom Kellner den Spezialcocktail des Abends aufschwatzen. Keiner von ihnen hatte etwas Derartiges je in Brasilien getrunken, aber für die französischen Zuschauer musste das Gebräu wie ein brasilianisches Nationalgetränk erscheinen, da es vor allem bunte und süße Ingredienzien enthielt und mit Scheibchen von hierzulande äußerst begehrten Orangen verziert war.
»Das ist das Bild, das sie von Brasilien in der zivilisierten Welt haben«, seufzte der Mann aus São Paulo. Er hätte auch als Nordeuropäer durchgehen können und hatte etwas von einem Buchhalter an sich. Er arbeitete in einer Bank, wenn Caro das richtig mitbekommen hatte.
»Sei doch nicht immer so miesepetrig, Fernando«, bat ihn seine Frau. »Die Leute lieben nun einmal Klischees. Und ein wenig profitieren wir ja sogar davon, dass sie es tun. Wenn man ständig unterschätzt wird, weil alle glauben, aus Brasilien kämen nur Paradiesvögel und keine vernunftbegabten Leute, dann hat das doch durchaus etwas für sich.«
Caros Achtung für die Frau, Clarissa, wuchs. Sie fand diese Einschätzung der Dinge klug und vernünftig. Warum sollte man den Leuten ihre Klischees, die in diesem Fall aus Träumereien und der Vision von einem farbenfroheren Leben bestanden, ausreden? Umso schöner war es doch, wenn man sie damit überraschen konnte, dass man tatsächlich schon einmal etwas von Strom, Telefon und fließend Wasser gehört hatte, dass man klassische Musik oder moderne Literatur zu schätzen wusste und gern auch einmal etwas anderes aß als Kokosnüsse.
»Aber – ihr seid doch auch anders als wir«, warf Maurice, schon leicht angetrunken, ein. »Unter einem dünnen Firnis aus Kultiviertheit seid ihr doch nur …«
»So witzig und reich an Esprit deine Beobachtungen auch immer sind, Schatz: Jetzt will sie keiner hören. Die Show beginnt jeden Moment.« Marie kannte nach nunmehr vierjähriger Ehe die Macken ihres Mannes in- und auswendig. Sie hatte keine Lust, dass er ihnen allen den Abend verdarb, weil er seine peinlichen Ansichten zum Besten gab.
Caro beobachtete die beiden interessiert. Aus der alles verzehrenden Begierde, mit der sie zu Beginn ihrer Ehe ihre Mitmenschen brüskiert hatten, weil sie sich in aller Öffentlichkeit küssten und befummelten, war eine Ehe wie jede andere geworden. Zumindest kannte Caro nur solche Ehen, in denen die Partner
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