Unter den Sternen von Rio
Wohnung zugelegt. Es war eine sehr herrschaftliche Bleibe, mit fünf Zimmern und in bester Adresslage am Faubourg Saint-Honoré. Es war ihre erste eigene Wohnung, in der sie tun und lassen konnte, was ihr gefiel, die sie ganz nach ihrem Geschmack einrichten konnte und in der sie sich, zum ersten Mal in ihrem Leben, frei fühlte. Es war ein vollkommen neues Lebensgefühl.
Dass sie die Kinderfrau mitgenommen hatte, erwies sich als kluge Maßnahme, denn erstens kosteten Kindermädchen in Paris viel mehr als in ihrer Heimat, und zweitens sprach die
babá
mit dem Kleinen portugiesisch. Caro selber verbrachte wenig Zeit mit ihrem Sohn, mit dem sie, obwohl sie ihm inzwischen tiefere Gefühle entgegenbrachte als noch vor ein paar Monaten, nicht viel anfangen konnte. Ohne brasilianisches Personal hätte der Junge früher oder später das Französische als seine Muttersprache angenommen, sein Portugiesisch wäre verkümmert.
Caro lebte auf in Paris. Fünf Jahre waren vergangen, seit sie zuletzt hier gewesen war. Fünf Jahre, in denen sie um mindestens zehn gealtert war, so wollte es ihr erscheinen. Es war so viel passiert in der Zeit. Sie hatte die Liebe ihres Lebens getroffen und verloren, sie war Mutter geworden. Aber, und das spürte sie erst jetzt wieder: Sie war noch immer jung. Sie war erst 25 Jahre alt, und sie hatte noch fast ein ganzes Leben vor sich.
Mit unerschöpflicher Energie holte sie all das nach, was sie in den vergangenen zwanzig Monaten versäumt hatte. Sie stürzte sich in das Nachtleben, nahm sämtliche Mahlzeiten auswärts ein, und zwar immer in Begleitung irgendwelcher anderen Bekannten, sie kleidete sich mit großer Befriedigung neu ein und wurde es nie leid, immer neue Schuhe, Taschen und Kleider zu kaufen. Paris machte es ihr leicht, denn die Auswahl an Geschäften war mindestens ebenso gigantisch wie die an Cafés, Restaurants und Nachtclubs. Ein ganzes Leben reichte nicht, um diese Stadt jemals sattzuhaben.
Sie genoss es ebenfalls, neue und alte Freunde zu sich nach Hause einzuladen. Sie gab wunderbare Soireen, und innerhalb kürzester Zeit war ein Besuch bei der »Witwe aus Rio« gleichbedeutend mit einem garantiert vergnüglichen Abend. Ihren kleinen Alfredinho musste sie hier nicht verstecken, sondern sie schleppte ihn manchmal auf ihrer Hüfte herum und ließ sich als bohèmehafte Mutter bewundern. Der Kleine wurde zu einem schmückenden Accessoire, was ihn aber durchaus nicht zu stören schien. Er war ein freundliches Kind, das sich anstandslos von Fremden auf den Arm nehmen und herzen ließ. Die Leute waren ganz verzaubert von ihm, und je mehr sie das waren, desto mehr freundete sich auch Caro mit ihrer Mutterschaft an. Sie nahm es ihm nicht übel, wenn er mit seinen kleinen Patschehändchen alles anfasste und verdreckte. Sie beobachtete fasziniert, wie er mit wackligen Schritten die Wohnung erkundete und sich nicht davon abschrecken ließ, dass er andauernd auf seinem mit Windeln weich gepolsterten Hintern landete. Sie lachte Tränen, wenn sie sich »versteckt« hatte, etwa hinter ihren Händen oder einem Tuch, und Alfred sich jedes Mal, wenn sie ihr Gesicht wieder zeigte, freute, als habe er sie seit Ewigkeiten nicht gesehen, und dabei begeistert jauchzte. Er war wirklich putzig, ihr Kleiner. Nur beim Essen verlor sie manchmal die Geduld mit ihm, wenn er mit beiden Händen auf seinen Brei patschte und sich quietschend über das Geplatsche und Gespritze freute. Zum Glück blieben ihr die alltäglichen Verrichtungen wie Füttern und Windelwechseln aber meist erspart, so dass sie die schönen Momente viel intensiver genießen konnte.
»Caro«, kam eines Tages Marie zu ihr, »was hältst du davon, wenn wir zu Karneval in ein kleines, schlechtes Varieté-Theater mit einer guten brasilianischen Sängerin gehen? Sie machen am Mardi Gras so eine Art brasilianische Nacht.«
Karneval. Den hatte sie ja ganz vergessen. Und am liebsten würde sie auch in Zukunft nicht daran denken. Es würde unweigerlich die Erinnerungen an eine Nacht in ihr wachrufen, die sie beschlossen hatte, zu vergessen.
»Klingt lustig«, sagte Caro stattdessen.
»Das wird es bestimmt. Es ist diese Art von Theater, wo man sich völlig danebenbenehmen kann, ohne hinausgeworfen zu werden. Von gepflegten Abendveranstaltungen habe ich allmählich die Nase voll. Lass uns mal wieder so einen vulgären Laden aufsuchen und uns ordentlich betrinken.«
»Warum nicht?«, kam es wenig überzeugt von Caro.
»Wir müssen uns auch
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