Unter den Sternen von Rio
Beleidigung oder Kritik an seiner Person auffasste.
»Eduardo, mein Lieber, du bist mit deinen 34 Jahren wahrhaftig alt genug, um deine Meinung auch so zu sagen, ohne dass man dich dazu auffordert«, sagte Dona Vitória, die sich auf einmal wieder in die Zeit zurückversetzt fühlte, als sie dauernd zwischen ihren beiden kleinen Söhnen hatte vermitteln müssen, damit diese einander nicht umbrachten.
»Ich bin erst 33 ,
mãe.
Es ist mal wieder typisch für dich, dass du nicht mal meinen Geburtstag kennst.«
»Sprich nicht in diesem Ton mit deiner Mutter«, sagte Don León streng. »Sie kann sich bestimmt besser an diesen Tag erinnern als du. Deine Geburt hat nämlich ganze 22 Stunden gedauert und …«
»Lass doch diese alten Geschichten«, unterbrach ihn Dona Vitória unwirsch. »Also, Eduardo, auf was habt ihr, du und Cecília, denn Lust?«
»In Anbetracht der Tatsache, dass unsere Kinder noch kleiner sind als die von Pedro und Francisca«, piepste Cecília in ihrer Kleinmädchenstimme, »würde ich lieber zu dem Kinderkarneval gehen.« Sie schaute leicht schuldbewusst drein, als habe sie durch ihre freie Meinungsäußerung die Autorität ihres Mannes untergraben.
»Ja, vielleicht hast du recht. Danach könnten wir noch ein wenig ruhen, damit wir heute Abend mit zum Kostümwettbewerb im ›High Life Club‹ gehen können.«
»Ist das der Club, in dem du heute Abend für uns reserviert hast?«, fragte Marie ihre Cousine.
»Genau der. Die Feste sind legendär – wenn auch nicht mehr ganz so extravagant wie zu Lebzeiten des Gründers, Paschoal Segreto. Habt ihr eure Kostüme so weit fertig? Wenn noch etwas fehlt oder daran getan werden muss, solltet ihr euch sputen.«
»Ja, bei dem Dreckswetter der letzten Tage hatten wir ja weiß Gott genügend Zeit, uns um alles zu kümmern. Aber sag mal, Ana Carolina, was ist das für eine lustige Veranstaltung in Copacabana? Können wir da nicht auch hingehen?«
»Warum nicht?«
»In dem Fall bräuchten wir natürlich andere Kostüme, irgendetwas Unkompliziertes, in dem wir baden können.« Marie nahm die Hand ihres Ehemannes und beugte sich zu ihm hinüber. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin er schmutzig lachte.
»Sieht so aus, als hätte er auch Lust darauf«, kommentierte sie.
»Wir haben auf dem Dachboden noch jede Menge alte Kostüme. Und alte Laken finden sich bestimmt ebenfalls – zur Not kann man immer als Scheich gehen«, schlug Dona Vitória vor.
»Oder als Gespenst«, warf Henrique ein.
»Oder als alter Römer«, meinte Pedro.
»Also ist es beschlossen?«, fragte Marie. »Herrlich, ich freue mich drauf. Komm, Ana Carolina, lass uns gleich nach dem Frühstück in eurem Fundus stöbern.«
Ana Carolina nickte und lächelte. »Erst die Messe, sonntags ist sie Pflicht. Danach gern.«
Nur Eduardo schaute mürrisch drein. Er würde auf den Spaß verzichten müssen, um mit seiner Frau und den Kindern zu einem wenig reizvollen Umzug von Marienkäfern und Engelchen und Sonnenblumen zu gehen, während alle anderen Erwachsenen sich auf
richtigen
Partys vergnügten. Nun ja, wenigstens am Abend wären sie die Kinder los und konnten sich amüsieren wie normale Leute.
Nach dem Gottesdienst verschwanden Ana Carolina und Marie auf dem Dachboden. Henrique hatte angeboten, mit Maurice zum Jóquei Clube zu fahren, was dieser sehr enthusiastisch begrüßte. Er war ein Pferdenarr und freute sich darauf, endlich einmal wieder zu wetten. Die Auswahl ihrer Kostüme überließen sie den Frauen, die dafür sicher das bessere Händchen hatten.
Auf dem Dachboden war es heiß und stickig. Durch ein kleines Dachfenster gelangte ein einziger Sonnenstrahl ins Innere, in dessen Kegel unzählige Staubkörnchen tanzten. Es roch nach Staub und Moder, und zahlreiche Spinnweben verstärkten den Eindruck eines Spukspeichers. Der Holzfußboden ächzte und knirschte, als sie darübergingen. »Nicht, dass ich hier einbreche und in ein Dienstbotenzimmer falle«, unkte Marie an einer Stelle, die besonders morsch aussah.
»Das wird nicht passieren«, sagte Ana Carolina in beruhigendem Ton. »Hier drunter liegt eines der Gästezimmer. Ich glaube, es ist das von Eduardos kleinen Ungeheuern.«
Sie prusteten los. Als ihre Lachsalve abklang, gingen sie weiter zu einem Schrank, der an der Giebelwand stand. Ana Carolina drehte den Schlüssel, der erstaunlich geschmeidig funktionierte, und zog an der Tür, die sich quietschend öffnete. Ihr Blick fiel auf zahlreiche verschlossene
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