Unter den Sternen von Rio
alten Laken nach?«, schlug Marie in flehendem Ton vor, und abermals brachen die drei Frauen in Gelächter aus.
Ana Carolina hatte wenige Situationen erlebt, in denen sie ihre Mutter so sehr als Freundin empfunden hätte. Sie genoss diese komplizenhafte Stimmung. Der Rest ihrer Zeit auf dem Dachboden verlief in schönster Harmonie, und fündig wurden sie obendrein. Marie entschied sich für eine römische Toga, die ihr Cousin Eduardo vor Ewigkeiten getragen hatte, Ana Carolina nahm das Hexenkostüm, dem ein paar Flecken und Löcher mehr nicht schaden konnten.
Vitória Castro da Silva verachtete sich selbst für ihren kindischen Anfall von Gefühlsduselei. Wem sollte das alte Kostüm da oben im Speicher noch nützen? Sie hatte es jahrelang nicht gesehen, ja nicht einmal daran gedacht. Da konnte sie es doch ebenso gut weggeben, oder nicht? Außerdem, lächelte sie still in sich hinein, würde es dem ollen Strauch gar nicht schaden, einmal ordentlich gewässert zu werden.
Sie hatte im Laufe ihres Lebens zahlreiche Kostümbälle besucht. Aber nur die Verkleidungen, die mit besonders schönen Erinnerungen verknüpft waren, hatte sie aufbewahrt. Als Eisprinzessin war sie 1903 gegangen, als sie im dritten Monat schwanger mit Ana Carolina gewesen war. Die späte Schwangerschaft hatte sie gefreut, ihr aber auch sehr zugesetzt. Um ihre Blässe zu kaschieren, hatte sie sich als bleiche, fast durchscheinend wirkende Dame verkleidet, mit weiß gepudertem Haar und in ein weiß und hellblau glitzerndes Kleid gehüllt. Es war ein schönes Kostüm und ein noch schöneres Fest gewesen, bei dem León ausnahmsweise mal ganz der Gentleman gewesen war, der er im Alltag nicht sein konnte oder wollte.
Im Jahr zuvor war sie als Maharani gekleidet gewesen – zu einer Zeit, da sie und ihr heutiger Erzfeind Roberto Carvalho einander noch so freundschaftlich verbunden gewesen waren, dass sie miteinander getanzt hatten, während León und Robertos Frau Madeleine am gemeinsamen Tisch gesessen und vor sich hin gebrütet hatten. Das Rio von damals hatte mit dem von heute wenig gemein. Der »Friedhof der Europäer« war es einst genannt worden, bevor der Präfekt Pereira Passos den hygienischen Missständen den Kampf ansagte und hart durchgriff. Unter den mehr als 600 Kolonialgebäuden, die abgerissen worden waren, war auch das einstige Wohnhaus ihres Bruders Pedro gewesen. Die Enteignung hatte Vitória damals geärgert, langfristig jedoch war sie ein Segen gewesen, denn sie hatte ihren Erfolg auf dem Immobilienmarkt eingeläutet.
Ach, alte Geschichten. Man durfte ihnen keine Bedeutung beimessen. Eigentlich hätte sie den Mädchen unter allen Kostümen die freie Wahl lassen sollen. Doch an dem Kaffeestrauch lag Vitória wirklich etwas. Sie hatte das Kleid getragen, als sie blutjung gewesen war. Sechzehn, siebzehn? Es war in dem Jahr gewesen, als León ihr Herz im Sturm erobert hatte – bei einem Fest auf Boavista, der Kaffeeplantage ihrer Eltern. Wie schön diese Zeiten gewesen waren! Und wie umwerfend León ausgesehen hatte! Er hatte sich als Sklave verkleidet und damit einen kleinen Skandal heraufbeschworen, denn immerhin war Vitórias Vater Sklavenbesitzer gewesen, und Leóns ausgefallene – und leicht ausfallende – Kritik war niemandem entgangen.
Himmel, wieso war sie plötzlich so sentimental? Es gab keinen Grund dafür. Eigentlich, fand Vitória, war die Jugend keine besonders schöne Zeit. Man verschwendete viel zu viel Energie mit Oberflächlichkeiten, mit dem Aussehen etwa oder mit dem Becircen von Männern, die es nicht wert waren. Die besten Jahre waren ihrer Ansicht nach die, in denen man erwachsen und reif genug war, um nicht mehr allzu viel auf die Meinung anderer Leute zu geben, in denen man selbstbewusst durchs Leben ging, sich um die Familie kümmerte und die »großen« Ziele verfolgte – in denen man zugleich aber noch jung genug war, um als attraktiv zu gelten und sich gesund zu fühlen. Sie selber war in ihren Dreißigern und Vierzigern am glücklichsten gewesen, am meisten im Einklang mit sich und der Welt.
Danach war es stetig bergab gegangen. Nicht etwa mit ihrem Geschäft, keineswegs. Aber mit ihrer Lebensfreude und Vitalität. Dieser Verfall ging zeitlich ziemlich genau einher mit dem Beginn der Wechseljahre. Spätestens wenn der Briefträger einen jovial mit »Guten Morgen, junge Frau« begrüßte, war es so weit. Oder wenn die Leute fanden, dass eine Frau »für ihr Alter« noch sehr gut aussah. Was
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