Unter den Sternen von Rio
hatte sie Freunde oder Verwandte entdeckt und ließ sich von ihnen feiern.
Erst Stunden später, als der ganze Trubel vorbei war und der Wagen vor dem Lagerschuppen hielt, wo er abgeschmückt werden sollte, fand einer der Burschen den Star des Abends.
Bel lag zusammengekrümmt auf dem schmutzigen Boden der Ladefläche und rührte sich nicht.
16
D ie Menschenmasse tobte und wogte, als sei sie ein eigenständiger Organismus von enormer Kraft. Wie die Brandung nach einem Sturm. Oder wie ein Gewitter, wenn es sich entlud. Inmitten all der verschwitzten Leiber, der kreischenden Stimmen und der sich überlagernden Melodien, die aus verschiedenen Fahrzeugen drangen, war es für vier Personen beinahe unmöglich, zusammenzubleiben. Es wurde gedrängelt und geschubst, getanzt und geschoben, gerempelt und gesungen, und die einzige Möglichkeit, in diesem aufgewühlten Meer nicht unterzugehen, war, sich einfach treiben zu lassen. So kam es, dass Caro ihre Cousine und deren Mann irgendwann aus den Augen verloren hatte. António war dagegen noch bei ihr – er hatte sie wie ein Kind an der Hand gehalten, sonst wäre sie ohne Zweifel ebenfalls von der Menge fortgerissen worden.
Der Umzug war längst vorbei, aber die Leute feierten einfach auf der Straße weiter. »Es ist eine einzige riesige Party«, hatte António erklärt, als sie noch im »High Life Club« gewesen waren. »Das müsst ihr euch ansehen. Nachtclubs gibt es auch in Paris, sogar sehr viel bessere als diesen. Aber ein solches Volksfest? Da kann nicht einmal der 14 . Juli mithalten.« Und er hatte nicht zu viel versprochen. Marie und Maurice waren hellauf begeistert gewesen, als sie in der Innenstadt ankamen und das ausgelassene Treiben sahen. Auch Caro war überrascht gewesen. Warum war sie eigentlich nie zuvor hier gewesen? Sie hatte die Autokorsos schon früher bestaunt, ja, aber nach dem Umzug war sie immer brav nach Hause oder aber zu einem privaten Fest gegangen. Dabei war dieser Straßenkarneval viel lustiger.
Allerdings auch gefährlicher. Es waren zahlreiche Diebe unterwegs, hatte António sie gewarnt. Um sie beide herum tummelten sich diverse Bürschchen, Kinder noch, denen man ansah, dass sie bei den sichtlich wohlhabenden Opfern Beute zu machen gedachten. Es trieben sich außerdem viele Betrunkene herum, die aggressiv und laut waren und so aussahen, als würden sie beim kleinsten schiefen Blick zuschlagen. Doch bei der Mehrzahl der Leute handelte es sich um brave Bürger, die bestens gelaunt das lange Wochenende und das endlich wieder gute Sommerwetter genossen und sich die Sorgen des Alltags wegtanzten. Die meisten von ihnen waren dunkelhäutig.
»Irgendwie passen wir nicht so richtig hierher«, meinte Caro. »Ich meine, als einzige Weiße unter all den
crioulos.
«
»Lass sie das bloß nicht hören«, grinste António. »Kein
moreno
wird sich gern
crioulo
nennen lassen.«
Caro lachte. Es war schon komisch, dass die dunkelhäutige Bevölkerung sich untereinander, verbal zumindest, mehr diskriminierte, als es die Weißen taten. Für jede Farbschattierung zwischen hellbraun und tiefschwarz gab es eigene Bezeichnungen, die ihrerseits einer strengen Hierarchie unterlagen. Jemand, der sich zum Beispiel als
pardo
betrachtete, hielt sich für etwas Besseres als einen
mulato,
weil er ein wenig heller war, während ein
moreno claro
schon fast weiß war, jedenfalls seiner eigenen Meinung nach. In den Augen der Weißen waren sie allesamt
crioulos
oder
negros.
»Wie auch immer. Feiern können sie jedenfalls.«
»Das fand sogar dein unerträglicher Schwager.«
»Ja. Dabei hat er neulich noch schwadroniert, die Schwarzen bräuchten alle die Peitsche. Aber er scheint sich auch ohne Peitsche gut amüsiert zu haben. Übrigens ist er gar nicht mein Schwager. Er ist der Mann meiner Cousine, die auch nicht wirklich meine Cousine ist. Deren Mutter ist nämlich nur die Schwägerin meiner Mutter, wobei sie auch das eigentlich nicht ist.«
»Hilfe!«
»Ich gebe zu: Es ist ein wenig verworren.«
»Vielleicht hätte Maurice doch besser eine Peitsche mitgenommen. Wenn ich daran denke, wie die beiden allein nach Hause kommen sollen … Ich hätte besser auf sie achtgeben müssen.«
»Ach was, die schlagen sich schon durch. In Paris machen sie auch regelmäßig die Nacht zum Tag, sie haben also jede Menge Erfahrung. Und Marie spricht Portugiesisch, da kommen sie sicher besser zurecht als völlig hilflose Touristen.«
»Ich weiß nicht. Wenn ihnen etwas zustoßen
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