Unter den Sternen von Rio
wahrscheinlich, um sich nicht dadurch vor ihm eine Blöße zu geben, dass sie weinte. Dabei hätte er sie viel liebenswerter gefunden, wenn sie sich auch einmal schwach gab, wenn sie es zugelassen hätte, dass man sie tröstete und in den Arm nahm. Ihre Kratzbürstigkeit beschwor ja geradezu harsche Worte herauf.
Er folgte ihr ins Schlafzimmer. Als er eintrat, wendete sie ihm ihren Rücken zu und gab sich geschäftig, als suche sie verzweifelt etwas im Kleiderschrank. Felipe wusste, dass sie ihn ihre Tränen nicht sehen lassen wollte.
»Neusa, es tut mir von Herzen leid, wirklich. Ich wollte das nicht sagen, es ist mir im Zorn herausgerutscht. Ähm, tja«, er räusperte sich und suchte nach passenden Worten, »es ist so, dass Bel heute Abend bei dem Umzug in der Rua do Ouvidor tanzen wird. Ich werde hingehen und sie mir anschauen. Und ich würde mich freuen, wenn du mitkämst. Sie ist unsere Tochter, und sie braucht jede Unterstützung, die sie kriegen kann.«
Er hörte Neusa nur schnauben, als er den Raum wieder verließ.
Bel war bereit. Sie trug ihr wundervolles Kostüm, war in die verschieden großen Schuhe geschlüpft, war geschminkt und frisiert. Jetzt fehlte nur noch der große Kopfputz. Den würde ihr eine Garderobiere aufsetzen und befestigen, sobald sie sich auf der Ladefläche des Wagens befand. Also in wenigen Minuten. Bel war von einer gespannten Aufregung, einer nervösen Freude erfüllt, einer Mischung aus Angst und Entzücken, die die Film- und Theaterleute Lampenfieber nannten. Diese mit nichts zu vergleichende Erregung gehörte zu einem Auftritt dazu. Sie beflügelte, trieb einen zu Höchstleistungen an und setzte Energien frei, von denen man bisher nichts ahnte. Bel liebte dieses Gefühl. Sie war süchtig danach.
Sie tänzelte beschwingt zu dem Lieferwagen mit der offenen Ladefläche. Er war wild geschmückt und sah aus wie ein Urwald auf Rädern, so dicht an dicht waren daran Blättergirlanden, Palmwedel, riesige Phantasiefrüchte und künstliche Vögel befestigt worden. Die Abendsonne tauchte das Ganze in ein warmes, gelbes Licht. Wenn der Wagen erst losfuhr und den Schmuck in langsame Schwingungen versetzte, würde man den Eindruck eines lebendigen Organismus gewinnen.
Einer der Musiker, die sich und ihre Instrumente bereits oben installiert hatten, reichte Bel die Hand, um ihr heraufzuhelfen. Und dann passierte das, was unter keinen Umständen hätte passieren dürfen: Bel verlor in der schweißfeuchten Hand des Mannes den Halt, und sie stürzte so unglücklich, dass ihr weher Fuß einen neuerlichen Knacks bekam. Es ging mit einem so scharfen Stich einher, dass Bels ganzes Bein wegknickte, als sie es belasten wollte. Sie hätte vor Schmerz und Wut heulen mögen. Was für ein Desaster! Zu allem Überfluss war sie mit ihrem schönen weißen Kleid mitten in einer der vielen Pfützen gelandet, die nach einem sonnigen Tag längst noch nicht ausgetrocknet waren. Bel sah an sich hinab. Sie unterdrückte jede sichtbare Regung, die den anderen etwas von ihren Schmerzen, ihrer Enttäuschung oder ihrem Zorn verraten hätte. Sonst käme noch irgendein wohlmeinender Blödmann auf die Idee, sie durch eine andere zu ersetzen. Aber das kam überhaupt nicht in Frage. Nicht heute. Sie würde tanzen, und wenn sie danach tot umfallen sollte. Und war es nicht auch ein Fingerzeig des Schicksals, dass heute die Sonne schien, nachdem sie genau dafür gebetet hatte? Aha. Mit solchen Zeichen des Himmels war nicht zu spaßen. Sie musste auftreten, ob es ihr gefiel oder nicht. Am besten dachte sie nicht weiter über ihren Fuß nach. Wenn sie sich fest auf etwas anderes konzentrierte, würde sie ihn gar nicht merken.
Sie biss die Zähne zusammen und lächelte die Männer an, die auf der Ladefläche standen und sie besorgt musterten.
»Nein, ist nicht weiter schlimm«, beantwortete sie die Frage des Musikers, der sie fallen gelassen hatte. »Jetzt hilf mir schon rauf, sonst kommen wir noch zu spät.«
Beim zweiten Anlauf klappte es. Auf der Ladefläche angekommen, durchzuckte der Schmerz sie wie ein Blitz, grell und unerbittlich. Doch irgendwie gelang es ihr, ihren Zustand vor den anderen zu verbergen.
»Carlinho und Zeca, könnt ihr euch schräg hinter mich stellen? Dann sieht keiner das schmutzige Kleid. Ich drehe mich einfach nicht wie geplant, sondern bleibe stehen und mache dafür ein paar Hüftschwünge mehr.«
»Wir können das ja mal ausprobieren.«
Die beiden Musiker stellten sich wie gewünscht auf.
Weitere Kostenlose Bücher