Unter der Hand (German Edition)
Ortsangaben sehr allgemein bleibt. Pferde, meint sie, Pferde spürten sofort, ob jemand falsch sei. Pferde lassen sich nicht hereinlegen. Und dann – stell dir vor, Vico – sagt sie: Mit mir können Sie Pferde stehlen.
Wir sind mittendrin, Lotte, müsste ich eigentlich erwidern, vielleicht nicht gerade beim Stehlen, aber beim Leihen. Ich werde alles zurückgeben, nach der Frist.
Aber Lotte lebt auf, Tiergeschichten kommen ohne Geschichte aus, sie berichtet von Rolf, dem Bernhardiner der Familie, der den Jüngsten das Laufenlernen erleichterte, indem er zuließ, dass sie sich bei den ersten unsicheren Schritten in seinem Fell festkrallten. Lottes Nasenflügel haben sich vor Erzähleifer gerötet, sodass die breite Nase jetzt noch fester vertäut erscheint.
Ich spüre, dass Lottes Erzählungen, die vom Schnee ebenso wie die jetzt von Rolf, mich entwaffnen, es ist, als läge hinter der Schneise, die der Krieg gezogen hat, allseits Vergoldetes, über jede Korrosion erhaben.
Und ich beschließe, ihr vorerst zu verschweigen, dass ich vor drei Jahren eine Reise zur Kurischen Nehrung unternommen habe, um die Asche meiner Mutter ihrem Wunsch gemäß in der Ostsee zu zerstreuen. Also die Landschaft kenne, die ihre Erzählungen so reich beschenkt. Von Klaipeda, dem ehemaligen Memel aus, war ich mit der Fähre übergesetzt auf die Nehrung und dort mit dem Bus nach Juodkrante gefahren, Schwarzort geheißen in Lottes goldenen Zeiten, Sand und Wald links und rechts einer schnurgeraden Straße, die Luft gewürzt mit einer Duftmischung aus Pilzen, Blaubeeren und Kiefernzapfen, dem Ostpreußen-Cocktail, der Bus voller Nostalgiker, die die deutschen Ortsnamen aufsagten wie das Vaterunser. Ich entzog mich ihrer Haftung, indem ich an der ersten Station den sentimental schaukelnden Bus verließ, in Juodkrante eben. Mietete ein kleines Zimmer in einem der alten Holzhäuschen, nach drei Anläufen hatte ich
Bed & Breakfast
im wunderbaren litauischen Wortschwall meines Vermieters identifiziert. Nur gebückt konnte man die Treppe in den ersten Stock hinaufsteigen, im Raum selbst nur unterhalb des Giebelscheitels aufrecht stehen. Mir war auch nicht nach aufrecht stehen, ich wollte vielmehr in embryonaler Krümmung liegen und keine Zuständigkeiten haben. Ich verbrachte die Nacht unter trommelndem Regen schlaflos. Vor dem Fenster eine orange leuchtende Straßenlaterne sowjetischer Prägung, in der Form eines gynäkologischen Untersuchungsinstruments. Auf dem Tisch stand die luftdicht verschlossene Dose mit der Asche, im Gegenlicht sah sie aus wie eine Handgranate. Ich hatte Skrupel der Luftabgeschlossenheit halber, gerade so, als würde ich meiner Mutter die Luft abschnüren. Was ich getrost als die metaphorische Version ihres Hauptvorwurfs gegen mich bezeichnen könnte. Decke und Kissen im litauischen Bett waren ungeheuer schwer, als wären Körper in sie gestopft, ja, ich fühlte mich belagert und konnte in diesem wehrlosen Zustand nichts dagegen unternehmen, dass sich das Ostpreußenlied in mir wie ein Soundtrack breit machte:
Land der dunklen Wälder / und kristall’nen Seen, / über weite Felder lichte Wunder gehn
. Dann meine Lieblingsstrophe als Kind:
Und die Meere rauschen / den Choral der Zeit. / Elche stehn und lauschen / in die Ewigkeit
.
Es waren natürlich die Elche, die mich als Kind berückt hatten. Ich stellte sie mir vor wie Einhörner, plötzlich auf einer Lichtung erscheinend, statuenhaft erstarrt, an Stelle des einzigen Horns lediglich mit zwei Geweihschaufeln bewehrt. Die Augen ohne Argwohn und Missgunst, ihr Blick nahm mich auf in seine feucht-samtige Tiefe und hatte nichts auszusetzen.
Choral der Zeit
akzeptierte ich unverstanden; es war einfach einer der vielen rätselhaften Refrains meiner Kindheit.
Kurz vor Sonnenaufgang fiel ich in einen wenig erholsamen Schlaf, kaum war es hell, sprang ich auf, den morgendlichen Träumen zuvorkommend:
Tag hat angefangen / über Haff und Moor, / Licht ist aufgegangen, / steigt im Ost empor
. Und marschierte zwei Kilometer durch den Wald zum Haff,
Heimat wohlgeborgen / zwischen Strand und Strom
– ach wär’s doch so! –
blühe heut und morgen / unterm Friedensdom
.
Die restlichen Strophen rezitierte ich nicht minder bauchrednerisch, während ich den Deckel der Dose öffnete, ins Wasser trat und bei starkem Wind der Asche zusah, wie sie verwehte. Womöglich zu meinen Füßen in diesem besonderen Moment der Weitergabe einen Jahrmillionen alten Bernstein, in dem eine
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