Unter der Hand (German Edition)
diese Rudi Carrell schaute, vor ein paar Jahren schon. Die war so mit Lachen beschäftigt, dass sie nichts hörte. Das trägt ihr heute noch Lottes verständnisloses Kopfschütteln ein. Man kann ja so etwas schauen – aber darüber lachen? Ich ahne, dass ich es mit einer Protestantin zu tun habe. Lotte trägt eine massive Bernsteinkette, an der sie reißt oder sich festhält, ihr Blick ist nun ängstlich. Ich bin immerhin in ihr Leben getreten. Und gehe einen Schritt zurück, damit sie sich nicht mehr fürchtet. Und lächle und sage, dass die Glyzinie prächtig sei, ein Lebenskünstler, weil sie überall Halt findet und gedeiht. Lotte seufzt ein bisschen theatralisch, sagt überraschend verschmitzt, dass dies ja auch für Schmarotzer gelte, und bittet mich ins Wohnzimmer. Durch einen dunklen Flur gehen wir hintereinander, unter den Füßen eine flauschige Perserbrücke, der Geruch nach Kampfer lässt nach und wird durch ihren ersetzt, Chanel N°5, das kenne ich. Danach roch auch meine Mutter.
Im Wohnzimmer herrscht Halbdunkel, die Rollläden sind zur Hälfte heruntergelassen. Viele Gemälde in schweren Rahmen, nur schemenhaft zu erkennen. Lotte fasst mich am Arm und zieht mich zu einem massiven Schreibtisch, auf dem die Gegenstände wie Museumsexponate festgefroren liegen.
Das war meine Schule, sagt sie und zeigt auf eine kleinformatige Tuschezeichnung an der rechten Wand, die in ihrem schwarzen Rahmen aussieht wie eine Traueranzeige. Meine Schule in Heiligenbeil, fügt sie hinzu. Ich trete nah an das Bild, das Häuschen, das geduckt und schräg die Mitte einnimmt, wirkt wie eine Kate auf mich, eine Kate aus dem Märchen, nicht wie ein Schulhaus. Ich müsste sie zum Erzählen auffordern; der Satz klebt am Gaumen, statt auf der Zunge zu liegen. Ich fürchte mich vor Ostpreußen.
Weil ich das Halbdunkel im Raum so bedrückend finde, weil alles darin, die Möbel, Pflanzen, Gemälde, den Anschein erwecken, längst bestattet zu sein, frage ich Lotte schließlich, ob es einen Garten gebe, eine Terrasse. Ich unterdrücke den Zusatz: Sauerstoff, Zugluft.
Sie japsen ja!, ruft Lotte aus und geht mit energischen Schritten voran, erneut dunkler Korridor, schattige Küche, dann endlich Licht. Unter einer rotorangenen Markise glimmt der steinerne Boden der Terrasse wie letzte Glut. Ich lasse mich auf eine kleine Bank fallen, und Lotte geht sichtlich zufrieden in die Küche zurück, um Kaffee zu kochen. Ihr Gast braucht sie.
Auf der Terrasse haben die Spinnweben und die Kletterrosen die Oberhand, ein Gedicht von Agnes Miegel, der Hausheiligen auch meiner Mutter, aufgestickt und gerahmt, ist unter ihren Ausläufern halb unleserlich geworden. Ich kenne es,
Wagen an Wagen
heißt es, aus dem Jahr 1949:
Und uns heulte und pfiff der Tod, / und der Schnee wurde rot, / und es sanken wie Garben, die hilflos starben, / und wir zogen weiter, / Wagen an Wagen
.
Ich fühle mich morsch und unbeholfen, wie jedes Mal, wenn es um mütterliche Angelegenheiten geht, und der Kaffee, den Lotte kocht und serviert, ist die symbolische und die reale Abhilfe. Der Kaffee ist ein Vertrag.
Das Gespräch kommt danach flott in Gang, ich frage leichthin nach der Schule in Heiligenbeil, nach dem Geburtsort. Das Wort Ostpreußen ist bisher nicht gefallen; es ist, als verstehe es sich – wie bei anderen mythischen Orten auch – von selbst, äußerlich womöglich ein Truggebilde, innerlich aber die sinnlichste Gewissheit.
Quilitten
, sagt Lotte, und als ich bemerke, dass dies ein wunderbarer Ortsname ist, der sich nach Früchten und Märchen gleichzeitig anhört, rasselt sie mit der Routine eines Alphabets andere Namen herunter:
Groß Hoppenbruch, Wolitta, Kahlholz, Pottlitten, Pinnau, Hanswalde, Perbanden, Alt Passarge, Schönlinde und Vogelsang
. Und schließt ab: Alles Kreis Heiligenbeil!
Ich protestiere; zu schön, um wahr zu sein! Lotte aus Quilitten. Sie nimmt keinen Anstoß daran, dass ich sie mit dem Vornamen anspreche. Und sagt: Doch, doch! Es ist wahr! Unsere Namen sind so schön. Und prostet mir mit der Kaffeetasse zu. Dann ändert sich der Tonfall, und sie korrigiert:
Unsere Namen waren so schön
.
Wir sitzen eine kleine Weile still, schauen in den gepflegten Garten, die Rabatten sind beängstigend akkurat, und die Erde ist beängstigend schwarz, so als sei gerade der Friedhofsgärtner dagewesen und hätte alles ausgezupft, was nicht dem Bepflanzungsplan entspricht. Ich denke an die armen Toten, über denen nichts wachsen darf, nur anwohnen,
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