Unter der Hand (German Edition)
und C6. Er berührte seinen Nacken, und im Schmerz rückten die Augenbrauen noch ein wenig näher zusammen. Eigentlich hätte ich ihn eher zu einem Orthopäden geschickt. Im Café Erbshäuser, bei schwäbischem Rahmapfelkuchen mit Sahne erfuhr ich seinen Namen – Franz –, seinen Beruf – Physiotherapeut – und sah seine Augenfarbe: Blau. Blau ohne Wenn und Aber. Sie war mir im sterilen Licht der Praxis entgangen. Er sprach mit leicht badischem Einschlag, sehr melodiös, und ich empfand sofort zweierlei: das Verlangen, von seinen unruhigen Händen, die Gabel, Löffel, Serviette in einer komplizierten Dramaturgie über den Tisch bewegten, berührt, heilend berührt, und beruhigt zu werden, und den Wunsch, für ihn zu kochen. Das lag vermutlich an der kindlichen Freude, mit der er die Sahne verspeiste, die letzten Reste mit der Längsseite der Gabel vom Teller abkratzte und sich dann den Mund mit einer Genugtuung abwischte wie nach einem großen Satz.
Wie kommt man zu solchen exklusiven Schmerzen?, hatte er mich einigermaßen spöttisch gefragt, und ich hatte ihm geantwortet: Da muss man nur zwei Monate zu früh auf die Welt kommen, mit einer Haut, die alles durchlässt und nichts vereitelt, in der Kindheit zweckentfremdet worden sein vom Klavierlehrer oder dem Onkel oder dem angehenden Rechtsanwalt, und eine Mutter haben, die mehr Einwände und Beanstandungen hat als Zuneigung – und schon kommt dir die Messbarkeit der Welt abhanden. In ihren Höhen und Tiefen. Franz hatte gegrinst und anerkennend
gut pariert
gesagt, als würden wir Tennis spielen und ich hätte einen besonders boshaften Netzball im letzten Moment geschickt retourniert.
Von ihm erfuhr ich, dass seine Bandscheibenbeschwerden daher rührten, dass er sie anderen nahm oder doch wenigstens erleichterte. Professionelle Deformation, sagte er und zuckte vorsichtig mit den Achseln. Immerhin wusste er so, was seine Patienten erlitten.
In der langen Schlange beim Gemüsehändler komponiere ich das Abendessen: Mangoldrouladen, dazu Rucola mit Schafskäse im Speckmantel, Holundermousse, Weißwein.
Essen, Massage, Beischlaf – so laufen unsere Begegnungen zu Hause ab. Ein beruhigender Dreiklang, leerer Kopf, voller Bauch, weiche Muskulatur. Franz und ich sind eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, aber das macht nichts. Wir wissen es beide und empfinden eine gewisse Ehrfurcht vor dem Wohlergehen, das wir einander bereiten. Und sind aus dem Alter heraus, in dem man annimmt, das gemeinsame Transpirieren habe etwas mit Transzendenz und Metaphysik zu tun. Wir haben uns durchaus gern. Die ersten grauen Haare auf seiner Brust rühren mich herbstlich.
Der lustige, drahtige Italiener bedient mich und kommentiert jede Bestellung mit der Bemerkung, das sei gut für die Liebe – er verkauft anscheinend ausschließlich Aphrodisiaka. Ich spiele mit. Sein bayrischer Kollege erklärt einer anderen Kundin, dass sie zwei Bund Radieserl nehmen soll, den ersten zu Hause essen, den zweiten zur Bestechung auf der Wies’n nutzen, damit ihr jemand einen Platz freihält. Ach, Bayern, du weiß-blaues Wunder, hier gehen alle Rechnungen auf. Ich kaufe ebenfalls einen Bund Radieserl, als Einsatz für künftige Wetten, als Chip für die Glücksspirale oder einfach nur, weil es immer wieder alarmierend hübsch aussieht, wenn unter der roten Schale das gleißende Weiß zum Vorschein kommt. Die reine Unvernunft, diese gottgegebene, sinnlose Schönheit des Radieschens. Es wird unsere Teller schmücken, unsere Zungen reizen. Hier, beim Gemüsehändler, der aus Freising drei Mal in der Woche anreist und alle Kunden duzt, findet a) lebendige Demokratie statt und ist b) die Welt so überschaubar wie die Kreuzung, an welcher der Georg, der Schorsch – so heißt er – Gurken, Sellerie und Gewissheiten verkauft: Am nächsten Dienstag komme ich wieder, woaßt scho’. Kann sein, dass bis dahin Luxemburg kollabiert, Vulkane explodieren, die nächsten Landtagswahlen ausgeschlafen überstanden werden und die Inkubationszeit für kommende Schrecken beginnt: Er wird da sein. Und ich werde die Wahl haben zwischen sauberen Kartoffeln und dreckerten. Komplizierter wird es nicht.
Franz kommt gut gelaunt. Er bringt mir Blumen und einen roten Tanga-Slip mit Spitzenborte, den ich sehr hässlich finde. Außerdem ein Kilo GalatinerKartoffeln. Die Mischung bewegt mich. Und ich unterdrücke den Impuls, die Geschenke bissig zu kommentieren. Und verschweige genauso, dass ich an die Nonnen denken muss,
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