Unter der Hand (German Edition)
saisonweise, dann wird es wieder entfernt und durch andere Dekoration ersetzt. Schließlich bricht Lotte das Schweigen (in der Zwischenzeit haben wir einen Teller mit dänischem Buttergebäck geleert, durch das Getöse der krachend im Rachen zerberstenden Kekse voneinander getrennt): Und Sie, Minna, was machen Sie? Gute Frage, Lotte, was mache ich bloß? Nach der Gruben- und Schwarzfahrt und nach der toskanischen Wiederauferstehung? Dieselben Umstände, in die ich zurückgekehrt bin, sind zu anderen geworden; das zu erklären, ist noch zu hoch für Lotte und mich, unerprobt wie wir sind, als Gespann.
Und dann fällt mir ein, was ich mache, jedenfalls mache, wenn Lotte mich danach fragt, was zwar nicht wirklich, aber wahr ist, und so antworte ich ohne weiteres Zögern: Pferdewirt. Pferdewirt?, fragt sie zurück. Ich habe Lotte zum Staunen gebracht. Sie riechen gar nicht nach Stall!, ruft sie aus und schlägt sich für ihre Verhältnisse heftig auf die Schenkel.
Ich komme auch aus keinem Stall, denke ich. Und sage laut etwas über das Lüften, Waschen, Umziehen, das wie am Schnürchen und automatisch ablaufe. Und verspüre innerlich die Stimmigkeit, den Schwung der erdichteten Aufgabe. Lotte sagt: Wir hatten auch Pferde, zwei Pferde, die Lise und den Beppo, ein Wallach. Im Winter zogen die den Schlitten, der Schnee lag meterhoch, drei Monate lang und länger. An ihren Fesseln bildeten sich Eiszapfen. Die Glöckchen am Zaumzeug und am Schlitten läuteten und bimmelten, tausendmal schöner als die in Kirchen.
Die Beschreibung löst in mir eine heftige Sehnsucht nach unbestreitbarer Andacht aus, einer Andacht, die nicht unter die Lupe genommen werden kann und sich in der unbarmherzigen Vergrößerung in ihre Bestandteile Illusion und Schwäche zersetzt. Sehnsucht nach geraden Zahlen, nach verlässlichen Jahreszeiten. Nach Schnee von gestern. Während Lotte spricht, habe ich ein wenig Zeit, mir zu überlegen, was ein Pferdewirt alles lernen, wissen und können muss. Falls sie nachfragt. Es gelingt mir nicht, ich schweife innerlich ab, während ihr Redefluss, ohne zu stocken, Trakehner, Elche und Immanuel Kant und sie selbst fortträgt in unerreichbare Nähen. Und ich frage mich, ob ein so inniger Heimatbegriff wie der ihre nicht eher Verlusten entspringt als einem scheinbar unbedrohten Leben am ersehnten Ort. Ich kann allenfalls mit einer vagen Vorliebe für Flusslandschaften dienen, weil ich an einem großen Fluss aufgewachsen bin. Mehr nicht. Das verleiht dem heiklen Innenraum namens Seele nicht gerade Statik. Lotte dagegen sitzt jetzt kerzengerade in ihrem Stuhl, als hielte sie selbst all diese phantastischen und virtuellen Räume aufrecht und in guter Spannung. Ich höre ihr zu.
Sie erzählt vom Hefebutterkuchen
Perdsmarktfladen
, der bei Pferdemärkten zur Stärkung angeboten wurde, warm zu verzehren. Danach liefen die Geschäfte, man war auf Betriebstemperatur.
Zucker, Zimt, Butter
, sagt Lotte; kein Zweifel, das ist der Schlussvers eines Gebets, sie könnte auch
Amen
sagen. Ich versuche mir vorzustellen, wie das Kind Lotte mit den Geschwistern und dem Pferdekäufer – der nicht der eigene Vater war, der war Lehrer, Lotte betont das – auf dem mit Holzbalken abgesperrten Marktplatz durchs Stroh watet, nicht viel höher reicht als die Beine der Pferde, Kaltblüter meist, Arbeitstiere. Überall Pferdemist, beschürzte Marktfrauen, Geschrei. Warmer Hefekuchen, Öfen, Feuerstellen. Nichts Schriftliches, nur Handschlag. Darüber ein hellblauer ostpreußischer Himmel, beinah durchsichtig, wie ausgesuchtes Porzellan. Welcher Untergang sollte in einem derartigen Moment bevorzustehen scheinen? Eben. In Lottes Worten:
Alles stimmte, nichts war verkehrt
. Und aus ihrer Sicht – und die kommt prompt – blieb es so bis Januar 45; danach war alles verkehrt. Bis heute. Sie lebt im verkehrten Land, mit verkehrten Aussichten (kein Frisches Haff weit und breit) und verkehrten Ansichten.
Vico, der Pragmatiker, würde jetzt sagen: Sie hat doch recht, einen Verlust erlebt man selbst, man fragt sich nicht, wer einem den Verlust beschert hat. Man beklagt den Verlust. Basta. Und: wer weiß, was sie alles auf der Flucht erlebt hat.
Lotte steht auf und schenkt uns Kaffee nach. Ich brauche Zeit. Hoffentlich holt sie nicht sofort die Fotoalben hervor. In mir verfilzen Einspruch und Widerspruch mit Frühchenwehleidigkeit und schaler Aufgeklärtheit zu einem unentwirrbaren Knäuel. Ungeratenes Kind. Statt schelmischer Wegbereiterin und
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