Unter der Hand (German Edition)
Charakter-Typologie-Theorie. Der martialische
Kopf-ab
-Typ, der zärtliche Killer, der Simpel, der sein Ei auf die Tischplatte drischt. Franz ist noch in Rage, er sagt, man würde zwangsweise zu einem Misanthropen, der nur noch Katastrophen das Potenzial zutraut, die Menschheit etwas zu lehren. Ich wünsche mir die Freiwillige Selbstkontrolle zurück!, stößt er hervor. Nein, ich wünsche sie mir als Teil des Innenministeriums! Warum gab es die Zensur nur bei politisch Brisantem und moralisch Bedenklichem? Warum nie bei Verblödung? Franz antwortet sich längst selbst: Weil letztere ganz andere Geldströme in Umlauf setzt, Verblödung gibt es nur als Schwemme, in diesem und in jenem Sinn.
Mir reicht es jetzt an Normalität. Ich wünsche mir, Franz möge übergehen zu einer weniger konfektionierten Entrüstung und Leitartikelei, möge die Zeitung senken, an mir als Gegenüber Maß nehmen und seine Rede an mich richten. Sonst reißen uns alle Fäden ab.
Wenn wir das, was wir erstreben, nicht erreichen können, niemals mit dem Nächstbesten vorlieb nehmen!
Sage ich, und Franz erscheint hinter der Zeitung. Meinst du mich?, fragt er etwas beunruhigt. Ist das ein Zitat? Ich meine uns beide, sage ich. Damit es versöhnlicher wirkt, stehe ich auf und umarme ihn von hinten. Du bist mein Nächstbester.
Ist das tückisch oder zärtlich?, fragt Franz und überlässt sich meiner Umarmung.
Sechs
Warum, frage ich mich – und dich, Vico – warum haben Frauen ein so besonderes Verhältnis zur Zeit? Sie haben ihre Tage, ihre Periode, ihre
menses
, was ja von Monat kommt, sie liegen im Wochenbett, haben beim Eisprung Mittelschmerz, und wenn alles vorbei ist, sind sie in der Menopause. Ihre Körper sind wie Abreißkalender oder – nein – wie das Meer, den Gezeiten unterworfen, je nach Mond, mal angeschwollen, mal ausgetrocknet. Für Männer ist das einzig Zyklische die Wiederkehr des Wochenendes, ihr Zeitbegriff ist geistig, nicht körperlich. Die Getränke sind es auch. Die Taktgeber der Männer sind äußerlich, die der Frauen innerlich. Männer sind beschäftigt und geschäftig, das heißt, sie geben ihre Zeit aus. Frauen verbringen sie. Deshalb ist bei ihnen Zeit auch nicht Geld, sondern Ehrenamt. Womit wir bei meinem kleinen Nachhilfeschüler wären, genauer gesagt bei Parwiz, dem Iraner, dessen Haar so palisanderschwarz ist, dass es schmerzt. Vor Schönheit. Als wäre in seinem Glanz eine südlichere Sonne gespeichert als unsere (mein Kitsch-Gen schlägt zu; es macht mich auch wehrlos, wenn auf einer Koppel ein Rappe galoppiert, der den Blick in Fernen richtet, die ihm nur ein Ausbruch näher bringen würde). Parwiz ist sehr schlau und sehr eigensinnig. Er hat alles, was man als Kind so hat: ADS, Bauchschmerzen und Migräneanfälle. Ich verstehe ihn. Nur Narren tut nichts weh. Mein Arbeitgeber hat einen leerstehenden Laden gepachtet und die Schaufenster mit lustigen bunten Buchstaben bemalt: LERNHILFE. Auch Bilder dampfender Kaffeetassen und gespitzter Bleistifte schmücken das Glas, wahrscheinlich wurde für diese Gestaltung irgendein Designer hoch bezahlt. Im Raum stehen niedliche Tischchen und Stühlchen, bei deren Anblick mir bereits der Rücken schmerzt. Die meisten der Schüler sind größer als ich und solchen Möbeln im Diminutiv längst entwachsen. Soll das Bestehen auf Kindheit vermitteln, dass es noch nicht zu spät ist? Oder die Einrichtung stammt aus der Konkursmasse einer privaten Elterninitiative, die an Streit, hohen Kosten und feuerpolizeilichen Vorschriften zerbrach, noch bevor die Kleinen zu Schulkindern wurden. Die Arbeitsplätze sind weit voneinander entfernt, Parwiz und ich sitzen in der hintersten Ecke, mit Blick auf die Tür und das Straßengeschehen, das wenig aufregend ist, aber uns doch der Anwesenheit der Welt versichert. Die geht hier nämlich schnell verloren, kaum ist ein Heft aufgeschlagen, ein vom vielen Blättern und vielen Stürzen mürbes Buch geöffnet, breitet sich Schulbeklemmung aus. Ich spüre sie auch; in Parwiz’ Gesicht tritt etwas Wachsames. Seine Fingerkuppen sind mitgenommen vom Nägelkauen, und ich würde sie am liebsten wie kleine Tierkinder in eine warme Kuhle betten, bis die Haut nachgewachsen und wieder imstande wäre, vor Zumutungen von außen abzuschirmen.
Steigerung des Adjektivs
, sage ich und tippe auf eine Tabelle in seinem Buch.
Positiv, Komparativ, Superlativ
. Und Parwiz sagt:
Negativ
. Scheiße, scheißer, am scheißesten.
Er teilt mir seine Beobachtungen
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