Unter der Hand (German Edition)
Broschüren auf ihren Einsatz warten.
Wie geht es Ihrer Frau Mutter?
Frau Schuchardt ist nicht meine Mutter.
Das sind Sie vermutlich die Nichte?
Mitnichten.
Herr Weiß bleibt ungerührt, zu Recht, das ist üble Limerick-Praxis, ich sage unlustig, dass ich nur eine Art Freundin, Betreuung, sporadische Begleiterin und geneigte Zuhörerin sei.
So viel Auswahl macht ihn stumm.
Außerdem gehen mich als Nicht-Verwandte Lottes Angelegenheiten – tot oder lebendig – aus seiner Sicht natürlich nichts an, er blättert, unschlüssig, wie mit meiner Präsenz im Raum zu verfahren sei, hektisch die Seiten um, die sich in den Ringen verhaken und an deren scharfen Plastikkanten er sich schließlich schneidet. Der Finger blutet. Er saugt daran, zerrt aus der Hosentasche ein nicht besonders frisches Taschentuch, umwickelt ihn und richtet einen fragenden Blick auf mich. Im Aufspringen renne ich fast Lotte um, die, ganz in Dunkelblau, ihre schwere Bernsteinkette umfasst hält, als führe sie sich beim Eintreten selbst an einem Halsband. Die Geste kenne ich mittlerweile, offenbar sind die schweren goldbraunen Steine so etwas wie Lottes Rettungsanker. Mit Pflaster und einem Glas Wasser kehre ich zurück, da sitzen beide schon über den Ordner gebeugt und betrachten schöne Särge.
Herr Weiß verarztet seinen Finger, während er Lotte vorschlägt, die bereits bestehende Sterbeversicherung angesichts ihres hohen Alters aufzustocken und sich so – er tippt auf einen Sarg, Eiche massiv, Messinggriffe – eine würdige Bestattung leisten zu können. Ich merke, wie sehr Lotte sich quält; sie möchte Herrn Weiß gegenüber nicht als jemand erscheinen, der am eigenen Tod geizt, andererseits fragt sie sich – zu Recht und traurig –, für wen eine solch prachtvolle Beerdigung von Wert sein könne. Für wen von der Handvoll Menschen, die ihr einfällt. Ihr Blick ruht auf mir.
Ohne lang zu überlegen, sage ich: Herr Weiß, Frau Schuchardt und ich sind der Auffassung, dass die bestehende Versicherung ausreichend ist. Frau Schuchardt engagiert sich schon seit Langem finanziell zugunsten eines Gnadenhofs für alte und kranke Pferde. Das erscheint uns sinnvoller, als teure Särge zu finanzieren, insbesondere angesichts der Tatsache, dass Frau Schuchardt eine Einäscherung erwägt.
Herr Weiß schluckt, der Krawattenknoten drückt und wird gelockert. Das weiße Pflaster an seinem Finger, Version
sensitiv
, sieht lustig wie eine Kochmütze aus. Kochmütze! Oreste! Steht er gerade im Eingang zu seiner Küche und lässt die großen Augen schweifen über den spätsommerlichen Garten? In Gedanken bei den getrüffelten Hühnerleberchen in Balsamico-Essig? Seinem Namensvetter, dem griechischen Muttermörder, so unverwandt wie irgend möglich. Dieser Oreste liebt alle Kreaturen, ob mit oder ohne Fell, geflügelt oder auf vier Beinen unterwegs, und er zeigt ihnen seine Liebe, indem er sie pochiert, brät, siedet, kocht, mariniert. Mit der Zärtlichkeit eines Frischvermählten.
Lotte und Herr Weiß sind aufgestanden, der dickbäuchige Ordner verschwindet im Koffer, dann die beiden im Windfang, ich höre die Tür zuschlagen und bleibe einfach sitzen.
Minna, sagt Lotte mit eigenartiger Betonung, als sie wieder ins Wohnzimmer tritt, wollen wir weiter aufräumen? Auf dem Weg nach oben fügt sie hinzu, dass solche Menschen,
jeckerl noch mal
, wie Herr Weiß üble Halsabschneider seien.
Gut, dass sie nichts von Claudias Verlobtem weiß, der demselben Gewerbe angehört und wahrscheinlich auch malträtierte Nagelbetten hat und spitz zulaufende Schuhe, auf die er wegen ihres professionellen Aussehens gerne hinabschaut; sie geben ihm Zuversicht, die Fährnisse des Lebens zu meistern.
Wir schnüren die prallen Säcke zusammen. Über Lottes Bett hängen in schweren Rahmen zwei üppig dekolletierte, viktorianische Mädchen, die angesichts unseres Treibens blassrosa und wohlgefällig lächeln.
Der Gnadenhof bleibt unerwähnt; ich habe Kreuzschmerzen und keine Lust mehr auf Ostpreußen, Lebensgeschichten und nachgetragene Todesnachrichten. Als ich zum Abschied, durch den Übermut der Verzweiflung in alberne Aufgedrehtheit geraten,
bella ciao
sage, schaut mich Lotte entgeistert und glücklich an. Ist das Italienisch oder wahr?, ruft sie. Und sie sagt: hoffentlich!, als ich das Gartentürchen schon erreicht habe.
Es ist noch nicht ganz dunkel, der Himmel in allen Farben von Fruchteis, cremig gedehnt. Nicht nachlassendes Staunen darüber, dass auf der ganzen
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