Unter der Hand (German Edition)
Gleichzeitig glimmt der Verdacht in mir auf, Lotte könne simulieren oder lediglich ihren Notruf ausprobiert haben oder nur über den Umweg eines Alarms zu einer Kontaktaufnahme imstande sein. Aber sie hatte mich ja einige Male angerufen.
Ihr Wort
ausmisten
kehrt zurück, und die Frage, was alles in ihrem Kleiderschrank aufbewahrt und mit Lavendelblütenduft imprägniert war außer Pullovern, Gabardine-Hosen und Blazern.
Neun
Vor der LernForm steht mein Tischnachbar und wartet auf seine Schülerin. Er stellt sich als Heinrich vor und heraus – an alle gängigen Namen unserer Generation habe ich gedacht, wenn ich ihn sah, Ulrich, Thomas, sogar Günther und Werner, aber nicht an Heinrich. Er lacht, als er meinen Namen erfährt, und schlägt vor, dass wir einander sowohl
Die grüne Minna
ersparen als auch
Heinrich, der Wagen bricht
. Schade, der Froschkönig ist ein schönes Märchen, in dem Gewalt – die Prinzessin schmettert den widerlichen Frosch gegen die Prinzessinnenzimmerwand – zum glücklichen Ende führt. Eine wahre Geschichte. Heinrich steht übrigens vor dem Gebäude, weil die Tür verschlossen ist; unser Arbeitgeber ist nicht erschienen, die Kaffeemaschine ist kalt, der Raum im Dunkel. Wir bleiben gemeinsam stehen, nein, wir bleiben einträchtig stehen und schauen den wenigen Leuten nach, die aus ihren Haustüren treten und den Arbeitskampftag beginnen, aufgerüstet mit Taschen, Absätzen, flatternden Tüchern, bewehrt mit gewaltigen Armbanduhren und schweren Geschützen an zarten Ohrläppchen.
Heinrich schätze ich auf Ende fünfzig, Anfang sechzig, Vicos Alter, aber er sieht älter aus. Nein, nicht älter, aber erfahrener, ein wenig umflort. Vico hat noch immer ein Repertoire an pubertären Verhaltensweisen, beispielsweise ein von keinem Zweifel getrübtes Selbstlob:
Ich möchte niemand anderes als ich selbst sein
, sagt er zum Beispiel. Oder:
Wie schön, wie verführerisch, wie hinreißend und zukunftsträchtig sah ich aus mit zwanzig und mit baffi (Schnurrbart)! Kannst du dir vorstellen, wie sehr sich die Frauen um mich gerissen haben?
Oder:
Ich bin reich! Ich bin richtig reich! Steinreich!
All das hört sich keinesfalls so an, als hielte er abträgliche Veränderungen im Zulauf von Frauen, im Zuwachs von Geld und im Zutrauen zu sich selbst im mittlerweile erreichten Lebensalter überhaupt für möglich.
Heinrich dagegen trägt einen grau-weiß melierten, kurz getrimmten Bart, die Haare sind an den Schläfen bereits weiß. Mein Name für ihn,
der Grauhaarige
, entspringt dem Märchenhaften. Er hat, wie ich jetzt aus der Nähe sehe, herzzerreißend schöne Augen, hell, aber so schwarz gesprenkelt, dass sie dunkel wirken, mit dichten Wimpern. Selbst die kleinen Wimpern am unteren Lid sind schwarz und dicht. Sein Blick, zwischen diesen beiden Fächern wie eingebettet, ruht freundlich auf mir.
Er macht mich verlegen, zu meiner eigenen Überraschung, ich fühle mich augenblicklich unerfahren. Und senke meinen Blick. Und hebe ihn sofort wieder, und so geht es noch einige Male auf und ab, als wären wir jung. Ich erröte, spüre die Wärme aufsteigen und weiß sofort, dass er nichts übersieht. Er hält den Blick.
Als Parwiz und Heinrichs Schülerin auf uns zuschlendern, bin ich erleichtert und nutze die kurze Zeitspanne der Begrüßung und Entlassung – die Tür ist noch immer verriegelt –, um Fassung und Blässe zurückzugewinnen. Parwiz winkt mir im Abdrehen noch einmal zu, mit diesem eingeweihten Lächeln, das er auch beim Kleist-Zitat aufsetzte. Und einsetzte.
Heinrich merkt an, dass er es angemessen fände, die erzwungene Pause ernst zu nehmen, und lädt mich zu einem Kaffee ein. Wir gehen zur Nymphenburger Straße und setzen uns an ein winziges Tischchen, das, eingezwängt zwischen einer Reihe anderer wie in einem französischen Bistro, an der sonnigen Längsseite der Eisdiele steht. Die Tischfläche reicht kaum aus für die riesige Eiskarte; wie immer in angespannten Situationen wächst mein Appetit auf Süßes, Cremiges. Andererseits will ich bei einem ausdrücklich als Kaffeepause verabredeten Treffen nicht schlemmen und Heinrichs Budget strapazieren oder eine entsprechende Diskussion führen. Latte macchiato also, der Milchschaum wird meinem Bedürfnis nach Trost, Beruhigung und milder Zuwendung genügen müssen.
Ich nehme mit dem Gesicht zur Sonne und zur Straße Platz, Heinrich mir gegenüber. Wir beobachten uns scharf und liebevoll, Heinrichs Hände bleiben unter dem Tisch, suchen
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