Unter der Hand (German Edition)
Welt dieselbe Sonne, derselbe Mond, dieselben Sterne angerufen oder besungen oder betrachtet oder übersehen werden. In Opernlibretti sind es immer die
stelle barbare
, die grausamen Sterne, die zulassen, dass sich die Menschen verfehlen, quälen, vergeblich sehnen. Vicos Stoff. Ich nehme jetzt lieber ein Ibuprofen, das hemmt Entzündungen, auch solche.
Diesmal ist meine Heimkehr in die eigenen vier Wände friedlich, keine Putzorgie, kein Pudding. Von Vico eine Nachricht:
Arrivo a Monaco!
Am nächsten Wochenende – ich bin sofort nervös, als stünde eine Prüfung bevor, und unterziehe die Wohnung einer kritischen Musterung. Viel bleibt zu wünschen übrig, aber nichts zu tun, beschließe ich. Die Zeichen der Verwahrlosung, die möglicherweise da sind, gehören zu mir, so wie die hakige Nase, die kurzen Beine, die Vorliebe für Mehlspeisen, die chronisch kleinmütige Seele und so fort. Der dicke Umschlag ist schlank geworden. Ein Teil meiner Anspannung hat mit der Ungewissheit in Sachen weiteres Verfahren zu tun. Wird Vico bis zum Ende des Projekts mit einem Umschlag im Gepäck anreisen? Welches Projekt?! Mir fällt niemand ein, der sich mit Mäzenen auskennt und mir raten könnte. Ich werde Franz einweihen müssen, da die Wahrheit so phantastisch ist – ein Mäzen! –, werde ich bei ihr bleiben. Und meine Sammlung von
Belcanto
aufstocken,
Norma
zum Beispiel und
Lucia di Lammermoor
anschaffen und die Einführungen dazu lesen. Ist das bereits korrupt? Oder schlau? Oder närrisch? Außerdem fällig wird die Anschaffung einer Flasche trockenen Sherrys und einer weiteren mit Grappa aus Brunello-Trauben. Mit dem können wir den Schmerz der unglücklich Liebenden lindern. Oder, wie ich Vico einschätze, entfachen. Und Vico wird sagen
così fan tutte
, wenn ich mit meiner prosaischen Art die schöne Stimmung korrodiere. Und dabei den schütter behaarten Kopf bedächtig schütteln, die kleinen Augen kritisch zusammenkneifen, um das Problem, also mich, schärfer in Augenschein zu nehmen.
In meiner Tasche ertaste ich auf der Suche nach einem Kaugummi zwei Schlüsselbunde, und mir fällt ein, dass ich noch ins
Bauhaus
muss.
Bauhaus
, das ist das zweite Paar, um dessen Pflanzen und Post ich mich kümmere. Ich nenne sie
Bauhaus
(und am Schlüssel hängt ein Etikett mit derselben Bezeichnung), weil bei ihnen im Unterschied zu den
d’Annunzios
alles von erlesener Schlichtheit ist. Geölte Dielenböden, abstrakte Kunst auf weißen Wänden und in wohlkalkulierter Position – Lichteinfall, Betrachterperspektive. Zwei Kelims, die Küche von strenger Wucht, eine Kochinsel in der Mitte wie die Kaaba in Mekka.
Sie besitzen nur drei Pflanzen, die aber müssen ausgetüftelt gepflegt werden. Jede hat ihren Dünger, der Zettel mit dem Mischungsverhältnis aus Leitungswasser, entkalktem und destilliertem Wasser hängt mit einem Magneten befestigt am Kühlschrank (auf dem Magneten ist das Filmplakat von
Pulp Fiction
abgebildet): 1/3, 1/3, 1/3. Mein Protest, seinerzeit, als unser Dienstverhältnis begründet wurde – die
d’Annunzios
hatten mich als zuverlässig und sesshaft empfohlen, letzteres ist in ihren Bekanntenkreisen eher selten, alle wohnen an mindestens zwei Orten zugleich, vermutlich, weil sich das im Lebenslauf so schön liest
wohnt in München und Clichy-sur-mer
oder
wohnt in Eckernförde und Mexico City
–, mein Protest also, dass die Komplexität dieser Mengenangabe durchaus bewältigbar sei und keiner Fixierung auf Denkzetteln bedürfe, verhallte ungehört.
Als ich mich mit der chinesischen Tanne, genauer gesagt Trauertanne, befasse, deren Erde vor dem Gießen und Einsprühen der melancholischen Zweige gelockert werden muss, spüre ich in meiner Tasche die Vibration des Handys. Ich melde mich sofort. Eine tiefe Stimme mit bayrischem Einschlag: Ihre Tante, Frau Schuchardt, hat einen Schlaganfall erlitten. Sie sind als die zu kontaktierende Person aufgeführt. Es geht ihr den Umständen entsprechend. Sie hat umgehend eine Infusion erhalten.
Ich atme ein. Lottes Nichte. Diesmal dementiere ich nichts. Zwei, drei Fragen meinerseits – Welches Krankenhaus? Wann ist es passiert? – und wir legen auf. Meine erste verrückte Idee beim überstürzten Verlassen der Wohnung ist, in Lottes Haus den Gürtel zu holen und ihr ins Krankenhaus zu bringen. Damit die Geschichte weitergeht, damit nichts abreißt, als Zeichen unserer heiklen Verbundenheit? Keine Ahnung, sobald man Intuition durchleuchtet, wird sie fadenscheinig.
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