Unter der Hand (German Edition)
Halt auf seinen Knien, dann kehren sie an die Oberfläche zurück, finden die Karte, öffnen sie, aber ohne dann einen Blick hineinzuwerfen, sagt er zur herantretenden Bedienung: Einen Espresso für mich. Der nächste Satz gilt mir. Heinrich heftet dabei seinen ernsten Blick noch immer so aufmerksam auf mich, als wäre er ein Fotograf, der einen Scheinwerfer so ausrichten muss, dass im ausgeleuchteten Bereich nichts entgeht: Sie sehen mitgenommen aus. Ja, antworte ich, ich habe einen schwierigen Tag hinter mir.
Und dann berichte ich ihm von Lotte, die ich behelfsweise als meine Großtante einführe, wie sie mich, käsig und kläglich, vom Weiß der Krankenhauskissen und des Kittels kaum abgehoben, mit weit aufgerissenen Augen erwartet hatte. In den Armbeugen Blutergüsse von vergeblichen Versuchen, eine geeignete Vene zu finden. Der rechte Mundwinkel herabhängend, die Sprache schleifend, als könne sie sich nicht richtig von der Zunge lösen. Sie möchte Nachthemden, Wäsche, Handtücher und versagt völlig bei der Beschreibung, welche genau ich ihr bringen soll. Sie weint, weil sie Knopfleiste, Spitzenbesatz, gestreift und geblümt nicht entwirren kann. Die Worte verwachsen miteinander, bevor sie sie aussprechen kann. Ein einziges Wort findet seinen Weg nach draußen:
kodderig
. Mir ist kodderig. Ich weiß, was es bedeutet, ich bin ostpreußisch genug be- und unterwandert, um es in all seinen Schattierungen zu verstehen. Es bedeutet, sich schlecht zu fühlen, aber darüber hinaus bedeutet es: In dieser Welt bin ich fehl am Platz, diese Welt ist fehl am Platz, mir fehlt ein Platz, alles fehlt, ich fehle niemandem, habe ich gefehlt? In ihrem Gesicht ist die Nase noch breiter als sonst, vielleicht durch das Liegen, durch die platt am Kopf klebenden Dauerwellen. Ich sitze auf einem Stuhl am Bettrand, unentschlossen, ob ich ihre Hand nehmen soll oder nicht, von einer eigenartigen Wut auf mich selbst überfallen, mir diese Suppe vor gar nicht langer Zeit an der Donnersberger Brücke eigenhändig eingebrockt zu haben.
Heinrich unterbricht mich an dieser Stelle mit einem Nicken; vielleicht weil die Bedienung unsere Getränke bringt und er den Geständnismodus, in den ich unversehens geraten bin, ein wenig unangemessen findet. Inwiefern hadern?, fragt er, sie ist doch Ihre Großtante? Verwandte kann man sich nicht aussuchen. Sie ist meine Angehörige, sage ich, ja, Angehörige kann man sich nicht aussuchen. Heinrich schaut ratlos, mir ist bewusst, dass mein Satz auf ihn unsinnig wirken muss, aber er bleibt stumm und rührt in seinem Espresso.
Ich erzähle ihm nicht, wie ich Lotte auf ihren Wunsch hin die Füße gewaschen habe, mit großer Überwindung. Von den ausgeprägten Ballen, die den Füßen etwas Unförmiges geben, und von meiner Überraschung über die Glätte und Zartheit der Haut. Von dem Ekel, den ich dennoch empfand. Und der Bestürzung über die Farbe und Beschaffenheit der Haut – weißlich, fleckig, verschlissen – im Alter, Bestürzung also angesichts der unverfrorenen Sichtbarkeit von Verfall und Vergänglichkeit. Wie wir verkommen.
Die Passanten, die vorbeiströmen, sehen in uns vermutlich ein Paar. Das beglückt mich. Als unsere Blicke sich erneut treffen, weiche ich nicht aus. Solche Wimpern wie Heinrich hätte ich gern, so dicht, so abschirmend. Wenn ich mich nicht schminke, sind meine Augen so nackt wie bei der Geburt. Nach Art der Molche eben. Unbewehrt.
Ich rühre in meinem Glas, aufs Stichwort Molch hin spult sich, als wäre eine Klappe gefallen, der Film meiner Geburt ab, wahrlich nicht zum ersten Mal, wach oder geträumt, unabwehrbar: Der tiefe Schnitt im Unterbau des Muttergehäuses, die weggeklammerte Haut, elastisch und weich wie Strudelteig, darunter die Höhle, in welcher der Molch haust. Der wird nun ans Licht gezerrt, in all seiner makabren Unfertigkeit, seinem durchscheinenden Körper, seiner pompösen Hässlichkeit. Kein Schrei der Selbstbehauptung, nur eine Art Seufzen. Seufzen Molche? Wohl nicht. Nur die menschlichen. Die Gerätschaften um den Operationstisch herum sind alle gelbstichig, abgetakelt, allein ein silbernes Tablett mit Folterinstrumenten adelt die schäbige Ausstattung; der Chirurg, die Schwestern werfen lange Schatten, bewegen sich auf lautlosen Sohlen. Kaiserschnitt! Zum Totlachen. Drei Pfund, nicht einmal eine halbe Prinzessin.
Minna? Heinrich schiebt die Tasse zu mir hin: Ihr Kaffee wird kalt.
Darauf reden wir über dies und das, beobachten einander gespannt,
Weitere Kostenlose Bücher