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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Leupold
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keine Zeit für weitere Erwägungen; sie zieht mich in ihr Schlafzimmer, in dem eine Rolle mit blauen Müllsäcken auf dem Boden parat liegt. Eine Wolke aus
Chanel N°5
lässt mich zurückweichen, es ist, als hätte Lotte nicht nur sich, sondern auch den ganzen Raum mit dem Duft eingesprüht, ich bilde mir ein, das Parfum, bläulich zerstäubt, in der Luft zu sehen wie abziehenden Nebel. Ich halte den Atem an, stelle das Fenster schräg und ziehe die Stores zur Seite. Das wird von Lotte sofort rückgängig gemacht, es muss ja nicht jeder darüber ins Bild gesetzt werden, dass Frau Schuchardt Besuch hat und ihre Schränke ausmistet.
    Als die Schranktüren offen stehen, paart sich der
Chanel
-Duft mit dem von Lavendel: Auf jedem Regal liegen Säckchen und Beutelchen mit den getrockneten Blüten, zusätzlich ist jeder Bügel akkurat mit einem Anti-Motten-Papierstreifen versehen. Die Vorstellung, einen derartig aufgeräumten – übrigens riesigen, die gesamte Länge der Wand einnehmenden – Schrank auszumisten, ist absurd, die Pullover, die Wäsche, die Handtücher, Röcke, Hosen, Kleider – alles liegt und hängt so korrekt ausgerichtet wie ein zum Appell angetretenes Bataillon. Aber Lotte zerstört mit zwei, drei entschlossenen Griffen diese Ordnung: Sie zerrt an den untersten Stücken eines Stapels, sodass er völlig verrutscht und sich auflöst, dann wischt sie mit verächtlichem Schwung ein paar Kleider vom Bügel. Am liebsten würde ich nach den Gelegenheiten fragen, bei denen diese Kleidungsstücke in Ungnade fielen. Noch bevor ich entscheiden kann, ob ein solches Ansinnen zu indiskret ist, hebt Lotte einen blasslilafarbenen Pullover vom Boden auf, hält ihn mit zwei Fingern hoch, wie einen armen Sünder am Schopf, und verkündet: Der ist wahrscheinlich fast so alt wie Sie. Weg damit.
    Ich nehme ihn wieder auf, er ist aus Angorawolle, den Ausschnitt ziert und verschließt eine violette Seidenschleife. Ich bin überwältigt: Von diesem Pullover hatte ich geträumt in dem Muttertraum, wie er sich an meine Wange schmiegt, nein, wie sich meine Wange an ihn schmiegt, als wäre er ein zutraulich-zärtliches Hündchen oder Kätzchen. Das in der Kindheit verweigerte Haustier. Fürwahr kein großes Wunder; alle Frauen dieser Generation, also auch meine Mutter, werden einen solchen Pullover im Repertoire gehabt haben, schräg angeschnittene, halbe Ärmel, leicht tailliert. Zum Glockenrock zu tragen. Halb festlich, halb Alltag. Je nach Accessoire.
Magic touch
. Nach dem Waschen auf ein Handtuch betten, nicht schleudern und zerren! Mit Kindern wurde kein solches Aufhebens gemacht.
    Ich stopfe alles, was Lotte aussortiert, in die blauen Müllsäcke, atemberaubend viel, Lotte muss wöchentlich Kleidung gekauft haben. Immer die gleiche dunkelblaue Gabardine-Hose, dezent gemusterte Pullover, weit geschnittene Blazer. Mir erschließt sich nicht, nach welchen Vorgaben sie etwas ausmustert: Fast alles wirkt kaum getragen, streng gefaltet, ohne die weichen Spuren von Körperwärme. Lotte ist eifrig, unermüdlich, mir scheint, sie bewegt sich flüssiger und trotz der rechtsseitigen Lähmung ohne große Einschränkungen. Die Frisur ist aus der Fassung geraten, auch das Gesicht entspannt, der Kontrolle entglitten.
    Aber dann stößt Lotte in der Tiefe des untersten Regals auf einen Gürtel, den sie, kraftlos auf einmal, mit fahlem Gesicht hervorzieht. Sie lässt sich auf einen Stuhl fallen, als würde ihr eigenes Gewicht sie in die Knie zwingen. Das Schwungvolle ist gewichen, an seine ist Stelle etwas geradezu Greisenhaftes getreten. Lottes Gesicht ist zerfurcht, die Haut hängt unschön schlaff von den hohen Wangenknochen. Ich reiche ihr Taschentücher, sie weint nicht eigentlich, aber ihre Augen stehen voll Wasser, wie Pfützen. Mit einiger Überwindung ergreife ich ihren Arm, um sie zum Bett zu führen. Dort setzen wir uns auf den geblümten Überwurf, zwischen Dahlien- und Asternblüten, ich stoße mit dem Fuß den geblähten, halb gefüllten Müllsack weg, als enthielte er verkeimtes Material. Reiche Lotte das Wasserglas, das auf ihrem Nachttisch steht. Sie schüttelt den Kopf, die Hände halten verkrampft den schlaffen, mürben Gürtel, ihr rechter Daumen fährt die abgewetzteste Stelle auf und ab wie ein Rasiermesser.
    Das Zimmer füllt sich mit ihren hechelnden und schweren Atemstößen, ich fühle mich von einer immer zäher werdenden Flüssigkeit verschlungen, Moor, Sirup, Gallerte. Vor Beklemmung verengen sich meine

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