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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Leupold
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Bronchien. Nur der Fötus, der Sauerstoff durch die Nabelschnur erhält, ist ohne eigene Lungenatmung im Flüssigen gut aufgehoben. Meine Entbindung, also die Entbindung meiner Mutter von mir, war keine Geburt, sondern eine Operation, Kaiserschnitt: Schieß los! Prompt befiel die Lungen eine Entzündung, und ich atmete vermutlich durch den Nabel. Seither Inhaberin des viel beschworenen Bauchgefühls. Dieser wirre Gedankengang schlingert in mir. Ich greife erneut nach Lottes Arm, mehr, um mich festzuhalten, als um sie zu beruhigen. Aber es wirkt, vielleicht ist auch einfach nur ein Zyklus des Weinens durchlaufen, jedenfalls beginnt sie zu sprechen. Zunächst in einem eigenartigen, bürokratischen Inventurton.
    Kalbsleder, wie der Koffer auch. Hier in der Schnalle sehen Sie die Initialen meines Vaters, FS, es war der feine Reisekoffer, kein großer, wir hatten ja keine Zeit, viel zu packen, nur einige Dokumente und Fotoalben. Meine Mutter hatte noch unsere Ausweise und zwei Alben in ihren Pungel getan, die haben es geschafft. Wir sind zu viert, meine Mutter und drei Schwestern, der Jüngste, 17, und der Vater an der Front, die beiden Ältesten schon gefallen. Meine Schwester ist 23, ich 21, die Kleine 15. Ende Januar, so kalt, die Lippen frieren an den Zähnen fest. Bis zum Schluss wurde ja noch das Durchhalten gepredigt, und fast wäre nicht einmal die Flucht Richtung Ostsee möglich gewesen, dann aber doch, die Mutter und wir Schwestern marschieren in einem langen Treck,
Wagen um Wagen, und um uns heulte und pfiff der Tod und der Schnee wurde rot und es sanken wie Garben, die hilflos starben …
Richtung Ostsee, Frische Nehrung, Pillau. Der Bernhardiner, Rolf, läuft mit, bis er umfällt. Seine Zunge baumelt ihm vor Erschöpfung aus dem Maul wie ein Lappen. Wir müssen ihn zurücklassen. Es bricht das Herz meiner jüngsten Schwester, in sein Fell gekrallt hat sie laufen gelernt. Wenn Rolf weg ist, ist alles weg. Sie hat es nie verwunden.
Und wir zogen weiter, Wagen an Wagen
.
    Lotte schluchzt, das ganze Bett rüttelt davon. Wir sitzen einfach da. Dann hört das Schluchzen auf, so abrupt, als habe jemand
power off
gedrückt. Sie spricht weiter, immer wieder Verse aus dem Miegel-Gedicht einfügend, als wären die der Mörtel, der das Brüchige für die Länge der Erzählung zusammenhält. Der Gürtel ist dabei der Rosenkranz zum Miegelgebet, er ist die handfeste Verbindung zu den Toten unter dem Eis, mit den Händen auf ihm wird die Geschichte greifbar.
    In der dunklen Nacht, wenn vor uns stehen, die immer neu unseren Herzen fehlen
. Die ältere Schwester und ich, wir sind Rotkreuzschwestern, das erleichtert das Einschiffen, die Mutter will unbedingt den Hafen und ein Schiff erreichen, nicht auf dem Landweg weiter fliehen. Da, wo Bomben ins Eis geschlagen sind oder nah der Fahrrinne, die es noch für den Nachschub gibt, ist das Eis brüchig. Lotte verstummt, schaut mich an wie ein Schlafwandler, der, kurz vor dem Aufwachen, mit einer furchtbaren Verwirrung kämpft, und fährt fort: Ich habe noch versucht, den Koffer zu halten, aber die Finger so steif von der Kälte, die Nachtschwärze, der Gestank der Leichen und Kadaver, das Heulen, all das, da greift man nicht mehr zu, da greift man nur noch daneben, zermürbt, erledigt. Nur was um den Hals hing oder was man auf dem Buckel trug, das blieb. Weg ist er, der Koffer, statt uns ist er untergegangen, sagte meine Mutter, aber dafür am nächsten Morgen gottlob Wolken, Wolken, ein Himmelsgeschenk, die Wolken deckten uns vor den Angriffen aus der Luft, die Kleine mit ihren 15 weinte zwei Tage und Nächte durch, hat sich die Augen ausgeflennt, bis ihre Haut vom Salz und der Kälte schuppte. Es ist ein Getrampel in der Luft, ein Schieben und Stöhnen und Schlurfen und Schluchzen, als wenn der liebe Gott das Elend im Chor hätte antreten lassen. Bei Mondschein lagen die schwarzen Baumstämme auf dem Eis herum wie Höllenriegel.
    Bei diesem ungewöhnlichen Wort hält Lotte inne, wirkt selbst erstaunt. Dann:
    Unter uns die Hölle, hinter uns die Hölle, nur vor uns, das mussten wir glauben, vor uns lag sie nicht.
    Ich weiß nicht, von welchen Baumstämmen Lotte redet, mag aber nicht danach fragen. Sie spricht jetzt wieder, als läse sie ein Textscript ab, und ich überlege, ob sie schon einmal zu einer Darstellung der Flucht aufgefordert wurde oder ob sie den grauenvollen Doku-Ton übernommen hat, der Sendungen darüber im Fernsehen zu eigen ist. Beides kann ich mir nicht recht

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