Unter der Hand (German Edition)
doch ohne Misstrauen. Heinrich ist frühpensionierter Lehrer. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass er aus seelischer Erschöpfung aufhörte, er wirkt auf mich, als könne er alles schultern, tragen und sicher ins Ziel bringen. Er sagt nichts zu den Gründen seiner Frühpensionierung und hört meinen Berichten über die
d’Annunzios
und das
Bauhaus
mit einem gelassenen Lächeln zu. Ich fühle mich ein wenig wie Vico, als Verkäufer, als Vertreter, ich will mich Heinrich andrehen, jawohl, und daher suche ich nach Vorzügen des Produkts Minna, nach Günstigem, das für die Anschaffung spricht: pflegeleicht, farbecht. Ohne Konservierungsstoffe und künstliche Aromazusätze. Aus Bodenhaltung, aus garantiert gefühlsfreiem Anbau, kalt gepresst, keine Liebe im Spiel, nur Physik und Chemie. Doch, Vico, ich habe im Blick, dass ich andere glücklich, wenn auch nicht selig machen soll! Die Erfolgsrate ist noch nicht überzeugend, Lotte im Krankenhaus, Heinrich womöglich kein geeigneter Kandidat. Womöglich macht er mich glücklich oder unglücklich, womöglich ist er längst glücklich – kein Ring an seinem Finger –, womöglich verliebe ich mich. Heinrich unterbricht meine Spekulation und fragt nach Parwiz. Ich lege los, als Ausgleich für mein immer wieder ausbrechendes, nur durch wenige Sätze unterbrochenes Schweigen und auch, um den inneren Aufruhr zu verschleiern.
Parwiz’ Vater, berichte ich, kam in den sechziger Jahren nach Deutschland, als politischer Flüchtling, er hatte gegen das Schah-Regime protestiert und konnte seines Lebens nicht mehr sicher sein. In zweiter Ehe mit Parwiz’ Mutter, einer Deutschen verheiratet.
Netter Kerl, sagt Heinrich, immerhin redet ihr miteinander. Anja ist schwierig, sehr verschlossen.
Anja heißt sie also, Heinrichs Schülerin, die die Ärmel ihres Pullovers lang zieht, bis sie über die Hände reichen, verfroren auch im Hochsommer, die spitzen Schulterblätter unter den weiten Pullovern wie gestutzte Flügel. Anja, sagt Heinrich, Anja hat es schwer, sie ist mit Schulden auf die Welt gekommen, die untilgbar sind.
Schweigend horche ich seiner Formulierung nach. Noch nie habe ich jemanden kennengelernt, der so behutsam und bedächtig ist. So fein. Nach nicht einmal einer halben Stunde mit Heinrich am Tisch der Eisdiele ist es unabweisbar gewiss, dass ich mich in ihn verliebe. Die Engländer sind um ihre Redeweise zu beneiden, die so viel treffender ausdrückt, was in einem solchen Moment – dem reinsten aller Zufälle – vonstatten geht:
to fall in love
. Mitten im Sturz stehe ich auf:
Entschuldigen Sie, sage ich und habe das Gefühl, meine Stimme nicht unter Kontrolle zu haben – so stelle ich mir Stimmbruch vor –, ich muss kurz verschwinden.
Heinrich steht ebenfalls auf, um mich zwischen den eng stehenden Tischen passieren zu lassen. Unsere Arme streifen sich.
Komm wieder, sagt er.
Zehn
Vico wünscht sich eine Besichtigung des Schlosses Linderhof. Das Wochenende habe ich für ihn reserviert, ein Zimmer im Hotel
Opera
gleichfalls. Franz nimmt an einer Fortbildung teil, in Regen im Bayrischen Wald. Wir haben bei unserer letzten Begegnung darüber gespottet, und er hat zum Abschied erwartungsgemäß gesagt, lass mich bloß nicht im Regen stehen. Ich erwidere nichts, ich muss ihm gleich zwei Männer verschweigen, obwohl es genau genommen gar nichts zu verschweigen gibt. Vor vier Tagen habe ich Heinrich in der Eisdiele sitzen lassen, bin von der Toilette durch den Seiteneingang der Eisdiele geflohen, habe mir, klarer Fall von Übersprunghandlung, im Schuhgeschäft gegenüber zwei Paar Schuhe gekauft, braun und schwarz, ansonsten identisch, und habe Lotte mit einem gewaltigen Blumenstrauß im Krankenhaus besucht. Sie zur Begrüßung auf die Stirn geküsst, das hat sie verblüfft, vielleicht gefreut, und habe eine halbe Stunde auf ihrem Bettrand gesessen. Von meiner Lieblingsfuchsstute erzählt, mit der Blesse in der Form Afrikas über braunsanften Augen. Lotte sagt zufrieden: Heute rieche ich die Pferde. Und sie schläft ein bisschen ein. Bei all dem nur an Heinrich gedacht, Heinrich satt, ich kann keinen Bissen zu mir nehmen. Gewiss, eine Sache von Neurotransmittern, meine Nervenzellen sind sich über die Diagnose längst einig, und doch: Welch ein Wohlgefallen, welche Wonne überkommt mich angesichts der prompt sich einstellenden Symptome der Verliebtheit! Sie äußern sich in meinem Körper, erzeugt aber wurden sie im Zustoßen der Begegnung, sie wuchsen und fielen
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