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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Leupold
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mir zu in einem echten Kontakt. Nicht in neurotischer Selbstbezogenheit, nicht als Kopfgeburt: In der Eisdiele saß der Mann namens Heinrich leibhaftig vor mir, begabt mit überwältigender Gegenwart. Keine hysterische Hitze, keine Selbstentflammung, es herrschten lediglich gar nicht fiebrige 37 Grad – Körpertemperatur. Heinrichs letzter Satz,
Komm wieder
, wird das Losungswort zum Aufrufen aller Einzelheiten der Begegnung. Wir haben weder Adressen noch Telefonnummern ausgetauscht, das habe ich ja auch durch meine Desertion verhindert. Nächste Woche werden wir uns in der LernForm wieder begegnen, und nun, beim Gedanken an Parwiz’ Spürhundqualitäten, muss ich lachen und mich fürchten zugleich.
    Ich besichtige das Doppelzimmer, das Vico beziehen wird. Die Glocken der nahen St.-Anna-Kirche läuten, als ich den Raum betrete. Vielleicht wirkt er aus diesem Grund sakral auf mich. Im ausladenden Bett mit Messingrahmen, das mitten im Raum steht, könnten gleich drei Violettas sterben oder Gildas ihrem Duca hinterherschmachten. An den Wänden gerahmte Fotografien berühmter Verdi-Inszenierungen, Mailänder
Scala
, das
Teatro San Carlo
in Neapel und ein Porträt des Komponisten in düsteren Farben. Hier wird Vico sich wohlfühlen.
    Für Vicos Chauffeur habe ich in einer kleinen Pension in Trudering ein Zimmer reserviert, unmittelbar neben einer für ihre guten Pizzas bekannten Trattoria. Vico denkt an alles. Ich kann mir vorstellen, wie er die Fahrt über den Brenner dazu nutzt, seinem Chauffeur die Oper, Münchens Pinakotheken und Lodenmäntel schmackhaft zu machen, nachdem die Frage nach dessen Frau und Kindern bereits in der Schlange vor der ersten Mautstelle abgehandelt wurde.
    Zum Empfang kaufe ich Vico eine CD von
Fidelio
und kann nicht ausschließen, dass die Arie Roccos, des Kerkermeisters, zu dem Entschluss beigetragen hat:
    Hat man nicht auch Gold beineben, kann man nicht ganz glücklich sein; das Glück dient wie ein Knecht für Sold, es ist ein schönes Ding das Gold. Wenn sich Nichts mit Nichts verbindet, ist und bleibt die Summe klein
.
    Wir sitzen im Fond von Vicos Dienstwagen, einem Alfa Romeo. Carmelo, der Chauffeur, fährt uns zum Schloss Linderhof. Ich habe Vico einen Besuch in Oberammergau ausgeredet; unzählige Devotionalien-Geschäfte, Kunstschreinereien, in allen Schaufenstern leidende Christusse, geschnitzt, gemalt und gehauen. Zuviel für Frühchen, überreich gesegnet mit einschlägigen Erfahrungen mit den Bräuten Christi, den Nonnen. Vico spricht über Bio-Gas-Gewinnung, er ist bei mehreren Unternehmen Gesellschafter, wenn ich es richtig verstehe. Er deklariert diese Reise als Dienstreise, weil er sich irgendwo im Allgäu Misthaufen anschauen und über deren Weiterverwertung nachdenken wird. Mit anderen Herren an runden Tischen, unter denen man sich Scheine zuschiebt, von denen wiederum ein Teil meinen übernächsten Umschlag polstern werden? Vielleicht bin ich die Abbitte, der Ablass, den Vico vorausschauend für seine spätere, ewig währende Seligkeit leistet. Vielleicht reicht bei der Zahl und Schwere seiner Sünden die Beichte nicht? Genug, offensichtlich hat selbst das übergangene Oberammergau in meiner Seele Unruhe gestiftet. Für eine Protestantin bleibt der Katholizismus eine vertrackte Grammatik.
    Für die Jahreszeit ist Vico viel zu warm gekleidet, Breitcord-Hosen, gewalktes Wolljackett, Kaschmirschal, nein, Cashmere-Schal mit c, das c ist ein Preissegment höher angesiedelt. Der überzählige Löwenzahn, im Lächeln leicht bedrohlich gebleckt, ist der einzige Widerspruch in seiner seriösen Erscheinung. Diesem Mann hätte Lotte jeden Sarg abgekauft. Eine heftige Sehnsucht nach Heinrich, nach den sorgfältig ausgewählten Farben seiner Kleidung, die nichts über ihn verrät, außer dass sie ihn gern einschließt, wärmt und abschließt, ja, auch das. Ich würde gern träumen, dass ich in seinem begehbaren Kleiderschrank stünde, den er vermutlich nicht hat, und die Hemden, Jacketts und Hosenstoffe berührte, die er tragen wird, getragen hat, und dass ich mich durch diesen Kontakt mit seinem Leben legieren könnte, wie flüssige Metalle es tun. Aber ich träume nur selten. Merkwürdig genug, dass ich mir einen Traum wünsche und nicht Tatsachen. Vico telefoniert mit seiner Sekretärin. Carmelo fährt schweigend, von meinem Platz aus sehe ich nur die Andeutung seines Profils und seinen rechten, behaarten Unterarm, den eine massive Uhr am Handgelenk abschnürt. Er kaut auf einem

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