Unter der Hand (German Edition)
schiebe den Rollator vorsichtig weiter, über die Schwelle, der Teppichläufer ist das erste Hindernis, der Fußabtreter vor der Toilette das nächste. Die ganze Wohnung ist voll solcher Fallen, einige dienen zum Schmuck – Kupferkannen, Bodenvasen –, andere wehren dem Schmutz. Alles überflüssig. Überhaupt wird mir die Ansammlung von Überflüssigem in den Wohnungen immer unheimlicher, dabei sollen all diese Gegenstände, der Trödel und Nippes ebenso wie die kostbaren Antiquitäten, ja eigentlich das Heim befestigen, nicht beschweren.
Wir trinken Tee aus Lottes guten Tassen, die Entscheidung habe ich getroffen, und sie protestiert nicht. Der Rollator steht in der Küche wie ein Stück Sperrgut, das man am Flughafen nicht auf den Bändern transportiert. Mir scheint, Lotte habe ihn mit Bedacht und Absicht nicht verstaut oder geparkt, sie braucht die Entfernung, sie tut so, als kenne sie ihn nicht. In diesem Gerippe auf Rädern versinnbildlicht sich ihr Abstieg.
Wir starren gemeinsam in den Garten, ein Gärtner hat ihn zwar versorgt, aber ihm nicht die Maniküre zuteilwerden lassen, die Lotte sich oder dem Garten verordnet hatte. Er sieht ein wenig verwildert aus, bildschön. Gleichwohl verspreche ich Lotte, noch bevor sie es verlangt, die Wege zu rechen: Sie liebt die parallelen Linien, die der Rechen hinterlässt. So herrlich gebahnt alles. Und gebannt.
Zum ersten Mal seit Tagen denke ich an Franz, erschrocken, nicht schuldbewusst. Der Schreck bezieht sich auf die unerhörte Geschwindigkeit, mit der ich ihn an den Rand meines Wahrnehmens und Fühlens gedrängt habe. Heinrich nimmt so viel Platz ein. Ich beschließe ihn später anzurufen, der guten Ordnung halber, würden Juristen sagen.
Und wo ich schon mit einer Art innerlichem Aufräumen befasst bin – während ich äußerlich nach Lottes Diktat ihren Koffer auspacke, Blumen gieße, Staub wische –, fällt mir natürlich auch Vico ein. Anders als bei Franz beschließe ich nichts. Ich vertage ihn; auf Berlin, auf später:
Your efforts will pay
, Claudias Tattoo, ist schließlich noch immer mein Orakel. Im Übrigen hat er sich auch nicht bei mir gemeldet, Politiker haben maximal Zeit für Botschaften via iPhone, und im Augenblick scheint dem frisch grün gefärbten Italien-Erneuerer selbst dafür die Zeit zu fehlen. Von morgens bis abends retten und raffen.
Ich breche ab; es ist Unsinn, derartig böse an ihn zu denken und ganz offensichtlich ein Ausweichmanöver um die Brache herum, die mein Inneres gerade – oder sogar konstitutionell? – ist. Jedenfalls beneide ich alle Menschen mit festen Freundeskreisen, in denen jeder seinen Ort hat, wo man sich kennt und gehalten wird. Von der Volksschule an. Mir glücken, wenn überhaupt, allein Tête-à-tête-Situationen, wie es sie beim Stillen gegeben hätte, wäre ich gestillt worden: Ich suche sie anscheinend noch immer. Die nährende Begegnung unter vier Augen, mit tiefem Blickkontakt, Liebeskalorien, ganze Mahlzeiten. Ich verabscheue Snacks. Und überhaupt, gab es nicht immer nur die diensthabende Nonne, die sich zu mir beugte und mich im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Kenntnis nahm? Kein lustig-lautes Familienleben um den Säugling herum, mal mit diesem, mal mit jenem Familienmitglied Hautkontakt?
Unter solchen Gedanken habe ich Lotte geholfen sich umzuziehen, eine der zahllosen Gabardine-Hosen kommt zum Einsatz, dazu der hellblaue Pullover, den sie im Museum trug und sehr liebt. Sie seufzt auf, als sie neu eingekleidet vor dem Fernseher Platz nimmt und mich auffordert, den Rollator hinter die Tür, außer Sichtweite, zu schieben. Ich packe die Sachen für die Reinigung zusammen, befülle die Waschmaschine und versuche, das heikle Thema Hilfe anzusprechen.
Ich habe doch Sie!, sagt Lotte und wendet den Blick nicht vom Bildschirm ab.
Ich meine offiziell, über die Pflegestufe.
Pflegestufe?
Lotte betrachtet mich, als hätte ich ihr vorgeschlagen, im Puff zu arbeiten.
Hat man Sie in der Reha oder im Krankenhaus nicht befragt?
Doch, sagt Lotte, sie haben mich gefragt, was ich nicht mehr kann. Kleine und große Toilette! Da habe ich ihnen gesagt, dass ich noch alles kann, alles! Und dass außerdem meine Nichte für mich sorgt.
Ihre Nichte? Ich?
Lotte zuckt mit den Achseln. Von mir aus Großnichte. Das war einfacher. Wie soll ich das sonst erklären, dass wir uns kennen?
Jeckerl noch mal
.
Jetzt erfinden wir schon beide, denke ich, vermutlich liegt in jeder Begegnung die schlichte und schöne
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