Unter der Hand (German Edition)
Unerwünschte Erinnerung.
Im Aufzug fragt Lotte nach meinen Reitstiefeln: Sie kommen direkt von der Arbeit?
Ja, lüge ich, ich habe nur schnell die Jacke gewechselt.
Tatsächlich bin ich morgens nach Hause gefahren, wieder mit dem Taxi, habe das schwarze Kleid aus- und Lotte zuliebe die Reitkluft angezogen. Das Kleid roch so stark nach Heinrich, nach Heinrichs Wohnung, besonders nach dem Zedernholz des Buchregals, an das es Heinrich, auf Höhe der Erstausgaben des 20. Jahrhunderts, mit bedächtiger Sorgfalt gehängt hatte, dass es mich überwältigte und ich mein Gesicht dahinter verschanzte gegen alle Zumutungen. Obwohl ich dabei unbeobachtet war, schämte ich mich des Überschwangs. Nichts ist den erfolgreichen Verwertern, Absahnern und Durchstartern so verdächtig wie Überschwang. Und ganz offensichtlich schaffen sie es, noch den randständigsten Mitgliedern der Gesellschaft, den Stubenhockern und Grubenfahrern wie mir angesichts ihrer unausgeglichenen Gefühlshaushaltsbilanz Beschämung einzuflößen. Die Unverfrorenen haben eine vorbildliche Temperaturregelung, sie geben Kälte ab und nutzen die verbleibende Wärme als Sprit im kapitalen Fernverkehr.
Beim Friseur nehme ich im Rücken von Lotte Platz, greife nach einer Illustrierten und blättere die Seiten blind um. Ab und zu wechseln wir ein Wort.
Heinrichs
ach, du bist es, möchtest du einen Tee
, als ich morgens um drei vor seiner Tür stand, habe ich noch im Ohr. An den Lippen den gesprungenen Rand des Teebechers, danach zögerlich der zweite Kuss – stockende Weiterführung der Unterredung vom Stall. Die Leselampe brannte und blieb eingeschaltet, als wir in das noch warme Bett glitten, uns betrachteten und aufnahmen wie zwei Heimkehrer. Schwierige Heimkehrer, solche, die lange fort waren und nun schockiert zwischen Wiedererkennen und Fremdheit schwanken. Schließlich Heinrich über mir, mein winziges Abbild in seiner Pupille. Endlich fällt er ins Gewicht. Ich halte ihn mühelos. Wie gastlich du bist: Dieser Satz fällt. Alles andere fließt wie die Stimmen eines Kanons ineinander im Konzert des Schriftlosen. Das Licht wird gelöscht.
Gepaart. So einfach, so richtig, so schwierig. Das erste Zusammentreffen zweier sich fremder Körper ist ebenso sehr eine Vereinigung wie ein Zusammenstoß, es wirft um und wirft zurück. Dem einen ist gänzlich und überwältigend neu, was dem anderen als Vertrautes bereits so lange angehört wie er lebt. Unaufholbar viel ist den Körpern schon eingeschrieben, sodass man in Betracht der begrenzten Lebenszeit und Lesezeit mutlos werden könnte. Dazu: die Scham im Angesicht der Nacktheit. Und: die Überwältigung durch die plötzliche, wundersame Gewissheit eines geteilten Innenraums. Und: die Ungeschicktheit des Anfangs, die Angst vor dem Ausland. Dankbar für die Dunkelheit sehen wir einander alles nach.
Im Traum waren die Übergänge weich, unter den Bedingungen der Schwerkraft spürt man jedes Gramm Lebensgeschichte schwer wiegen. Liebe ist nicht unsterblich, Liebe macht sehr sterblich. Wir spüren es beide und nehmen nur eine kleine Hypothek auf die Zukunft auf. Leiser Jubel.
Als ich ihn noch in der Umarmung fragte, warum er so gar nicht erstaunt war über mein nächtliches Eintreffen, sagte er, dass er an seinem Arbeitsplatz, dem Internat, häufiger nachts in langen Gesprächen schlichten musste, was tagsüber ungelöst geblieben war. Probleme wachsen im Dunkeln.
Bin ich so ein Fall?
Ja!
Ist das hier eine besondere Schlichtung?
Die ungewöhnlichste.
Erzählst du mir mehr vom Internat?
Ein andermal gern.
Wir dösten. In die Stille hinein, die beruhigend im Takt des kleinen Weckers schweigt, fügt er irgendwann hinzu:
Mit dir kann man gar nicht fremdgehen
.
Als wir uns zum Einschlafen einrollen, bilden sein breiter Rücken und der letzte Satz zusammen einen soliden Schutzwall. Ich schmiege mich daran und fühle mich, auch vor mir selbst, bewahrt. Und in eine Zeit gefallen, in der das Wünschen noch hilft.
Jetzt versetzt mich das Wort fremdgehen in Angst und Schrecken, ich nehme es in seiner landläufigen Bedeutung und frage mich, ob Heinrich eine Frau hat. In der Wohnung gab es von einer solchen keine Spur, am Morgen, im Bad, nur wenige Utensilien eines männlichen Badnutzers: Ein Rasierpinsel, ein Stift zum Einseifen, ein Eau de Toilette – den Duft kannte ich längst. In den Brusthaaren, die weißgrau und kraus sind, hatte er sich am intensivsten gehalten, dort hatte ich, als Heinrich sich noch einmal
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