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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Leupold
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Aufforderung, sich im Licht des neuen Gegenübers neu zu verfassen.
    Beim Abschied, am frühen Abend, steht Lotte in der Eingangstür wie vom Himmel gefallen, so klein. Als stünde das Wachsen noch bevor, aus der Ferne. Nah weiß man es besser.
    Ich schlurfe in meinen schweren Stiefeln durch die aufgeräumten Straßen Sollns, im Feierabendlicht eines vergangenen Arbeitstags. Friedastraße, Idastraße, Irmgardstraße, dann Sänger: Caruso & Co. Es herrscht der rechte Winkel. Erblindete Häuser: Ich hasse Rollläden. Sie sperren den Süden aus.
    Zu Hause angekommen setze ich mich auf meinen Balkon: Die Dunkelheit hat alles überrollt. Dafür wird man hellhörig, die Ohren ersetzen das Augenlicht. Oder die Augen hören mit. So kommt es, dass die Wolken musizieren.
    Der Wein tut gut, die von den Stiefeln befreiten Beine kribbeln. Ich bin den Nachbarn rund um den Innenhof dankbar für ihre Lebenszeichen, auch wenn es meist nur das Flimmern eines Bildschirms ist. Von Oskar, dem Ableser, zieht Duft nach Gegrilltem vorbei; er sitzt also auf seinem Balkon, schaut zur Pappel wie ich. Wir teilen ihr Rauschen.
    Als Siebzehnjährige war ich einmal in Neapel, im Schlepptau einer verliebten Freundin, die mich beim Freund ihres Freundes verstaute, vielmehr bei dessen großer Familie. Ich habe auf dem Balkon auf einer Matratze geschlafen, inmitten des Keifens, Türenschlagens, Plärrens, Singens und Geklappers aller unsichtbaren Anwohner. Kein deutsches Schlaflied hat mich je so unangreifbar eingelullt wie diese neapolitanischen, Nacht für Nacht erklingenden Ouvertüren zu großen Opern. Ich bin ganz und gar damit einverstanden, dass meine Italien-Liebe die übliche, die durchschnittliche, die genormte ist. Dann bin ich nicht so allein.
    Ich schreibe mir eine kleine Liste zur Bewältigung des bevorstehenden Tags:
Bauhaus
, Nachhilfe, Franz anrufen, (Kontakt mit der DUDEN-Redaktion aufnehmen), PUTZEN.
    Und warten, dass Heinrich sich meldet. Das schreibe ich nicht auf. Ohne Rotwein – das Glas steht auf der Balkonbrüstung, in gefährlicher Schräglage – würde ich mich hoffentlich fragen, warum nicht ich ihn einfach anrufe. Stimmt das? Ist es nicht vielmehr so, dass Alkohol verwegen macht? Heißt das womöglich, dass ich ohne Rotwein nicht einmal wagen würde zu warten? Liebe Nonnen, Crescentia, Algerte, Hiltrud – wie auch immer ihr geheißen haben mögt, sagt mir auf der Stelle, ob ihr vor knapp einem halben Jahrhundert das Baby im Steinbett g e l i e b t habt. Von mir aus sprecht mit Grabesstimme: Wenn ich betrunken bin, höre ich alles. Besonders Worte der Zuwendung.
    Vermutlich hat es schon mehrere Male geklingelt, denn das Klingeln, das mich schließlich aufspringen und das Glas abstürzen lässt – welch allerliebstes himmlisches Jauchzen und Frohlocken beim Aufprall vier Stockwerke tiefer –, ist ausgesprochen stürmisch. Hinter der schwungvoll aufgerissenen Tür steht Franz. Auf meine Frage, warum er seinen Schlüssel nicht benützt, kommt die Antwort: Das weißt du doch.
    Komm rein.
    Wir gehen zum Balkon, Franz stellt eine große Tasche ab, fünfzig Meter unter uns träumen die Scherben. Zwei neue Gläser werden geholt (ich), und eine neue Flasche wird geöffnet (Franz). Das beschäftigt uns so lange, bis wir gefasst genug sind, einander in die Augen zu schauen. Die Kerzenflamme flackert, dabei ist es windstill.
    Ich wollte dich zum Essen einladen, sagt Franz, wie schon gesagt, am Freitag, hast du Zeit?
    Ja, schon, antworte ich, warum hast du geklingelt?
    Franz seufzt ein bisschen, er findet mich stur.
    Es hat sich etwas verändert.
    Du hast dich verliebt.
    Nein, das nicht. Oder noch nicht. Aber hier – Franz macht eine ausladende Bewegung, die mich, den Balkon, die ganze Wohnung mit einschließt – stimmt etwas nicht mehr. Etwas ist –
    Ich falle ein: faul.
    Ja, sagt Franz, etwas ist faul, stimmt nicht mehr. Dann schweigt er erschöpft.
    Ich stehe auf, umfasse ihn im Sitzen, von hinten und drücke ihm einen Kuss auf die Schläfe. Er betrachtet mich überrascht, und als ich sage: Alles ist gut, du hast die Tasche sicherlich für deine Sachen mitgebracht, nickt er bloß.
    Wir stoßen an; ich spüre einen kleinen Schmerz, nicht schlimmer als Seitenstechen, und beschließe, von Heinrich noch zu schweigen. Wir besprechen das Essen, lange Pausen, in denen der sternenlose Himmel, der sich im Widerschein der Stadt hell wölbt, ausgiebig studiert wird.
    Und als Franz gegen ein Uhr nachts aufbricht, ist seine große Tasche

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