Unter der Hand (German Edition)
einer Geschichte gelegt hat, die ihn sich selbst entfremdet hat.
Ein Kollege, Sport und Geschichte, der war, ja, wirklich kollegial, er glaubte mir, möglicherweise hatte er ähnliche Erfahrungen mit Elisabeth. Aber ich wollte auch den Schülern nicht länger zumuten, von einem mutmaßlichen Frauenbelästiger unterrichtet zu werden. Es hat die Luft im Klassenzimmer vergiftet. Ich habe es ja auch selbst verstanden: Es ist unentscheidbar, wer recht hat in einer solchen Situation. Der Schaden, den beide haben, ist das einzig Unbestreitbare. Sie hat mir zu Unrecht vorgeworfen, sie belästigt oder genötigt zu haben – aber sie hat sich möglicherweise in ihrer Gekränktheit auf etwas bezogen, das tatsächlich da war: meine Zwiespältigkeit, die mangelnde Übereinstimmung von Fühlen und Handeln.
Ich weiß, was er meint, und kann mir nicht leisten, es zuzugeben. Heinrich fährt fort, ganz offensichtlich nachempfindend, was in mir vorgeht.
Ich war nicht edel, ich war ein bisschen feige, ein bisschen eitel und ein bisschen gleichgültig.
Warum hat deine Frau dir nicht geglaubt?, frage ich schwach.
Sie hat mir geglaubt. Wir wären auch ohne Elisabeth auseinandergegangen.
Es kehrt Ruhe ein. Wir reden weiter, aber nun ist es kein Berichterstatten, kein bestelltes Erzählen mehr, sondern ein ohne Verabredung verwobenes Hin und Her, aus geteilter Autorschaft entsteht ein Kontext. Wir lesen, aber wir lesen nicht vor. Heinrich, der zu Anfang auf meinem Balkon saß wie ein Häftling bei der Vernehmung, mit angezogenen Beinen und unbewegtem Blick, löst sich, die Beine gestreckt. Als ich, umgezogen und des roten Kleids und der Gründe, es zu tragen, entledigt, mit zwei Gläsern Wein zurückkehre und die Teetassen aufräume, hält mich Heinrich am Arm fest und sagt, ich solle nicht so unglücklich schauen, es sei nichts Falsches an der Nachfrage gewesen.
Ich mache immer alles verkehrt, sage ich.
Immerhin macht dich deine Selbstbezichtigung ab und zu geistreich, sagt Heinrich höflich und rappelt sich auf. Mich stört sie nicht, solange du dir nicht den Kopf kahl scherst und vor lauter Selbstgeißelung die Feiertage abschaffst.
Ich frage vor jäh aufwallender Liebe so kraftlos, ob es sich bei dem heutigen Tag um einen solchen, einen Feiertag, handle, dass wir beide auflachen.
Heinrich hebt sein Glas an die Lippen, trinkt, auch ich trinke, wir lassen die Gläser sinken, betrachten einander, während die Pappel rauscht, nebenan ein Streit abebbt und die Spätnachrichten im Zweiten Programm mit dem dramatischen Dreiklang beginnen.
Ich habe die Schule aufgegeben, sagt Heinrich nach Augenblicken einvernehmlichen Schweigens, weil sie mir nach dem Vorfall mit Elisabeth – der vermutlich einfach nur meine Wahrnehmung geschärft hat – als Brutstätte des Verkümmerten und Kleingeistigen erschien; dennoch, es war Fahnenflucht, ich habe meinen Posten verlassen und die Schüler enttäuscht. Damit muss ich leben.
Du machst es an Anja wieder gut, sage ich.
Und dann, ohne Vorsatz, ohne Zögern, ohne Pomp sage ich: Ich liebe dich.
Der Satz ist in der Welt.
Und Heinrich? Heinrich lässt ihn nicht im Stich.
Wir vertrödeln eine weitere Stunde auf dem Balkon, bei zunehmender Kühle, beide in dieselbe Decke gehüllt, ein Geschenk von Franz, österreichisches Fabrikat, Merinowolle, er hat es immer gut gemeint. Die Stühle nebeneinander gerückt, als säßen wir im Kino. Ein Liebesfilm.
Ein einschlägiger, sagt Heinrich, jetzt, nach unserem Bekenntnis.
Ich stehe auf einschlägige Liebesfilme, sage ich. Ein angeborener Defekt.
Unter der Decke liegt meine Hand auf seinem Bein, in der schönen Beiläufigkeit, zu der ich mich durch die Aussprache des Satzes ermächtigt fühle und die endlich nicht der Rede wert ist. Heinrich berichtet von seinen anderen Schülern, er arbeitet noch für zwei weitere Nachhilfeschulen, der Bedarf ist gar nicht zu decken, ein schlechtes Zeichen, sagt er, eine ganze Generation wird zur Mangelware erklärt; in einer Gesellschaft, in der Geschwindigkeit so viel zählt, ist Sitzenbleiben der größte anzunehmende Unfall. Schlechte Zustände, die den Nothelfern ein halbwegs gutes Leben ermöglichen.
Ich höre ihm zu, aufmerksam und abwesend zugleich. Sein Klagen erreicht mich, dennoch bin ich auch abwesend, abwesend, weil ich die Köstlichkeit und die Unscheinbarkeit des Moments von außen erleben möchte: Ein Paar auf einem Balkon, unter einer Decke steckend, ohne Hast, ohne Zwist, ohne Zweifel. Echte
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