Unter der Hand (German Edition)
lockere meinen Griff; Parwiz steht geneigten Kopfs und stumm, die Hände in den Taschen. Der Wind bewegt eine Haarsträhne, die nassen, zerkauten Bändel seiner Kapuze flattern. Sonst rührt sich nichts.
Meine Wut verraucht, zurück bleibt eine Beunruhigung, die nur zum geringsten Teil praktischer Natur ist. Im Gesamtbudget ist diese Stelle nicht besonders wichtig, solange die
d’Annunzios
nichts von der entwendeten Figur erfahren. Das ist die Nahsicht, die lebenstüchtige. Bei Fernsicht handelt es sich um einen derart winzigen Vorfall im Leben zweier Vorübergehender, dass er auf der Zeitskala nicht einmal ein Pünktchen einnimmt. Und doch: Die Beunruhigung bleibt, im heiklen Gespinst meines Lebensgewebes, in dem alle – Parwiz, Lotte, Heinrich – eingesponnen sind, haben sich Maschen gelockert. Aber schulde ich nicht meinen Anfängen die zuversichtliche Feststellung, dass der seidene Faden mehr aushält als so mancher Strick?
Minna, was machen wir jetzt?
Parwiz’ Stimme bricht zwischen hoch und tief, noch ist keine Ordnung eingekehrt, Trotz, Angst und Scham ergeben eine sehr gemischte Tonlage.
Er nimmt mein Angebot, einen Espresso zu trinken, an, will aber nicht in Bogenhausen bleiben und rennt fast bis zur U-Bahn.
Werden sie mich auch anzeigen?, fragt er, als wir uns gegenübersitzen, keuchend vom Spurt.
Kann sein, warten wir es ab, antworte ich gelassen und muss mich kaum anstrengen:
Der
Cantus firmus
von der Nichtigkeit allen menschlichen Strebens stimmt sich von allein an. Nur wenige Sekunden sind wir unterwegs auf dieser wüsten, wunderbaren Erde und haben kaum Zeit, uns zu verlieben, Schwalben zu bestaunen, Kinder zu erziehen und uns zu betrinken. Da wird die Entführung einer kleinen Stier-Bronze zu einer Nichtigkeit, zu einer Episode im großen Chorgesang des Planeten. Eine solche Überlegung ist einem Nonnenzögling besonders angemessen, maßgeschneidert geradezu, finde ich, erst recht dann, wenn er beauftragt ist, Freude zu bringen. Das ist Unsinn? Mag sein, aber für den sind die Lebensgeister nun einmal zuständig. Ich beuge mich also zu Parwiz und flüstere ihm nach Art von Verschwörern ins Ohr: Mach dir überhaupt keine Sorgen, alles wird gut.
Glaubst du?
Parwiz selbst tut es offensichtlich nicht, er knackt mit den Fingerknöcheln, ein barbarisches Geräusch, das ich nicht aushalte. Meine Abgeklärtheit, mein Ewigkeitsgleichmut weichen sofort einer heftigen Angriffslust, lass das, bitte ich ihn.
Weißt du eigentlich, fragt Parwiz darauf mit völlig verändertem Gesichtsausdruck, irgendwie listig, vielleicht sogar verschlagen, weißt du, dass eine Lehrerin von seiner alten Schule behauptet hat, Heinrich hätte sie belästigt?
Was?
Das hat Anja mir erzählt.
Parwiz lehnt sich zurück, um mich besser in Augenschein zu nehmen.
Es stimmt nicht, hat er ihr gesagt, aber die Lehrerin hat einen ziemlichen Aufstand gemacht, bis er ging.
Mit dir kann man gar nicht fremdgehen
. Meine Lider werden schwer und senken sich über die Augen zur Abschirmung.
Ja, ich weiß, sage ich unter Aufbietung aller Kräfte und öffne die Augen, Heinrich hat es mir gegenüber einmal angedeutet. Ich glaube ihm.
Fickt ihr? fragt Parwiz, wendet den Blick nicht ab.
Nein, sage ich, und: Ich will nicht darüber sprechen. Was für eine Frage.
War nur ein Test, sagt er und ist ganz blass vor Anstrengung.
Als wir aussteigen, entschuldigt er sich ein zweites Mal wegen des kleinen Stiers, bis dann, also, sagen wir tonlos, drehen ab und schlagen entgegengesetzte Richtungen ein. Ich fühle mich wie in einem Sandsturm, jeder Orientierung beraubt. Statt über den Rotkreuzplatz zu meiner Wohnung zu gehen, laufe ich die Nymphenburger Straße nach Westen und stürze in die Modeboutique mit dem Namen
Frau Schöne
. Drei Minuten später verlasse ich das Geschäft mit einem signalroten Etuikleid und einem Seidenschal in Schwarz – alles auf Pump gekauft, noch gleitet meine Kreditkarte unbeanstandet durch den Schlitz des geheimnisvollen Geräts, das schnurlos mit den Kreditgebern dieser Welt verbunden ist. Wie nach dem panischen Schuhkauf vor wenigen Wochen, überfallen mich auch dieses Mal ein Nachgeschmack und ein Ekel angesichts der unanständigen Erlösung, zu der ich mir mechanisch verholfen habe, anstatt sie seelisch zu verdienen. Andererseits – die trotzige Gegenrede folgt auf dem Fuße – habe ich nicht das Recht, mich für die Begegnung mit Nina und den Abschied von Heinrich zu rüsten und den glatten Stoff des
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