Unter der Hand (German Edition)
Aufstehen bin ich unfassbar ausgeruht: Kinderleicht und tief habe ich geschlafen. Mein Körper sitzt wie angegossen, das übliche Gefühl, nach Verlassen des Betts falsch verschraubt zu sein, schmerzhaft verdreht wie eine kubistische Skulptur, ist verflogen, meine Wirbelsäule geht anstandslos ihrer Aufgabe nach, mich im Lot zu halten.
Heinrich ohne Brille am nachmittäglichen Frühstückstisch, ich merke mir mit einer Art entzückter Selbstverständlichkeit, was er isst (Semmel und Marmelade) und trinkt (Kaffee, schwarz, mit Zucker). Ein wenig ähnelt das aufkommende Gefühl der Erregung, die man bei den ersten gelungenen eigenen Worten und Sätzen in einer Fremdsprache empfindet: es ist das Hochgefühl einer erlaubten Aneignung.
Heinrich mustert mich, womöglich mit ähnlichen Gedanken, lässt den Blick durch die Küche schweifen, nimmt alles in Augenschein und – hoffe ich – in Besitz. Wir stimmen überein, uns verjüngt zu fühlen und uralt, vorsichtig, verlegen, linkisch und waghalsig zugleich, Anfänger eben! Im Kostüm von Weitgereisten. Auch in allen anderen, albernen, großartigen Diagnosen der Liebesverfasstheit sind wir einig, wir besingen sie vorsichtig und spotten vorsichtshalber auch darüber. Fremdes und Nahes sitzen mit am Tisch.
Ich fasse zusammen: Dann hast auch du gut geschlafen.
Ja, antwortet Heinrich mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit, die etwas Amtliches hat, ja, bei dir schläft man gut.
Ich schalte zur Unterstreichung des Alltäglichen, das keine Hervorhebung braucht, das Radio ein: Stuttgart 21. Und sofort wieder aus.
Keine Bühne weit und breit; ich verspüre eine beseligende Freiheit, eine aufregend neue Geduld: Ich will kein Libretto schreiben, in dem Heinrich und ich, das Liebespaar, in den Nachrichten Berichte über die Stuttgarter Bürger hörten, die gegen die unterirdische Verlegung des Bahnhofs protestieren und zu denen der Sprecher
Wutbürger
sagt, mit einer Stimme, die deutlich macht, dass dieses Wort nun zum Terminus aufgewertet ist, der uns alle eine Weile peinigen wird, in rasender Abnutzung bereits beim zweiten Mal seiner Verwendung, den
Mutbürger
längst im unausweichlichen Schlepptau – nein, ich will hier und jetzt nicht das Liebespaar spielen, das einig oder uneinig darüber urteilt, eine Berührung, einen Kuss austauschend: nein. Es wird sich zeigen, welche Gedanken in diesem noch fremden Kopf zu Hause sind, welchen Anteil Heinrich nimmt an der Welt. Jetzt sitzt er an meiner Küchentheke, Gast und Einheimischer zugleich, der Hemdkragen offen, die Halsschlagader pocht sichtbar im Takt des Herzschlags, und zuverlässig kreist das Blut. Das Fenster geht nach Süden.
Auch Pausen haben, wie Schatten, einen genauen Umriss.
Und als Heinrich schließlich, während ich ein zweites Mal Kaffee aufsetze, Brot schneide, überhaupt, mich sinnvoll im Raum bewege, mit einer Resolutheit, die mir neu ist, beklagt, dass es an einer alltäglichen Einmischung fehle, die so normal sei, dass sie in den Zeitungen gar nicht auftauchen würde, die nichts von amokhaftem Überkochen hätte, sondern nur selbstverständliche Ausübung von Bürgerpflichten, von Gemeinschaftssinn wäre, da hat es einfach seine Richtigkeit, dass sich im Innenraum des gemeinsam geführten Selbstgesprächs die Welt geltend macht.
Heinrich hält inne, die Brille in der Hand.
Wir kapitulieren ständig, sagt er abschließend, und haben nicht mal einen Feind.
Dann setzt er die Brille wieder auf, eine Bewegung, die ich mittlerweile kenne, im Takt seines Nachdenkens, wachsende und abflauende Konzentration und Erregung anzeigend.
Erneutes Schweigen, spürbar nun eine gewisse Ermattung, die aus der Unbeholfenheit der Anwärter, die wir sind, erwächst.
Die winzigen weißen Blüten des Schleierkrauts, das auf der Fensterbank steht, bewegen sich im Windzug. Kein Argwohn und keine Beanstandung hätten in diesem luftgeschenkten Augenblick auch nur die kleinste Aussicht auf Durchsetzung.
Als mein Handy klingelt, springe ich alarmiert auf.
Wer war das?, fragt Heinrich nach meiner Rückkehr an den Küchentisch.
Ich berichte also von Vico, den ich am Wochenende in Berlin treffen würde, schwitze, spüre, wie mein Gesicht heiß und rot wird. Das reine Unbehagen.
Komische Geschichte, sagt Heinrich, als ich mit der Schilderung des Linderhof-Ausflugs ende. Willst du das weitermachen?
Ich hebe ratlos die Schultern.
Es hat meinem Leben eine Wende gegeben, ich habe Lotte und dich kennengelernt. Noch nie vorher hatte ich
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