Unter der Hand (German Edition)
Kleids auf die Schürfwunden zu legen, die mir die diversen Abstürze mit schöner Regelmäßigkeit bescheren?
Ich nutze den kurzen Moment der Wappnung und suche im Adressbuch meines Handys nach Heinrichs Nummer: Sie steht nicht unter Heinrich, sondern unter
D
wie Du. Das ist sicherlich ebenso bedenklich wie die Vorliebe für Adagios in Es-Dur.
Heinrich antwortet auf meine drei Fragen: Bist du’s? Hast du heute Abend Zeit? Geht es dir gut? drei Mal mit ja. So wie die Kauflust unbezwingbar war, bricht jetzt ein Rededrang aus, ich erzähle ihm, dass ich am kommenden Freitag eingeladen sei und am Samstag nach Berlin fliegen müsse. Ich berichte von der Schwalbe. Ich rede und rede, gehe im eigenen Erzählfluss verloren, bis er mich unterbricht:
Minna, sagt Heinrich, und es wird sein längster Satz in unserem Gespräch, ich habe
ja
gesagt, weil ich dich treffen möchte. Soll ich zu dir kommen?
Als ich an den Zeitungsaufstellern an der Ecke, kurz vor meinem Hauseingang, vorbeigehe, schließe ich kurz die Augen, um die Schlagzeilen zu übersehen, die Aufdeckungen weiterer Übergriffe in Klosterschulen, Reformschulen und Jesuitenkollegs melden.
Richtig so. So nicht. Beides stimmt. Schwarz auf weiß. Die schönste Verkleidung ist gleichzeitig die schönste Entdeckung. Unerwartet vor den Augen der Nichtsahnenden als Betthupferl auftauchen, als Nachtlektüre, sechsundzwanzig unschuldige Buchstaben in unentrinnbaren Verkettungen, Unruhestifter im selbstgerechten Schlaf. Ich spreche in Rätseln, jawohl, und das aus gutem Grund. Was einen in den Niederungen der Adoleszenz zustößt und im Innern eine Mülldeponie hinterlässt, kann man nicht umstandslos weißwaschen und als schöne Erzählung präsentieren. Vico gelingt die Umwandlung von Müll in Wertvolles oder Nützliches ganz offensichtlich; vielleicht ist er weiser, als ich annahm, und traut meinem Stoffwechsel dasselbe zu.
Unter der Dusche zu Hause gelingt es mir kaum, den Vorfall mit Parwiz, die voraussichtliche Kündigung und den unvernünftigen Einkauf wegzuspülen, ich lasse den starken Wasserstrahl prasseln, als würde ich darunter zum glatten Fels, in den nichts eindringen kann.
Beim Abtrocknen schaue ich nur ungenau in den Spiegel, der Katechismus der Selbstverwerfung schlägt sich von alleine auf, bauchrednerisch betet er sich her. Dem ist nicht zu entkommen, einziger Ausweg: Einlass bei Heinrich. Ich ziehe das rote Kleid an, werfe den Schal um wie eine Weltreisende, dann schreibe ich eine Nachricht an die DUDEN-Redaktion mit der Bitte um neue Aufträge. Nun habe ich das Kleid schon halb verdient. Dann buche ich den Flug nach Berlin, entscheide mich für die unangenehmsten Abflugzeiten, um zu sparen, spreche Vico eine glatte Lüge auf seine Mailbox (
sono contentissima di verderti
, freue mich riesig auf dich), die meine Zunge anstandslos befördert, und setze mich auf den Balkon, um auf Heinrich zu warten. Auf seine Geschichte.
Neunzehn
Wir begehen meine Wohnung, als sei ich der Makler und Heinrich der Käufer. Heinrich wirft einen überraschten Blick auf mein Kleid und den Schal, kommentiert meinen unpassenden Aufzug aber nicht.
Ohne zu wissen, dass es welche sind, hebt er besonders die Erbstücke meiner Eltern hervor: den Wedgewoodstuhl vor dem Schreibtisch, den Kelim in der Diele, das Biedermeiertischchen im Schlafzimmer. Ich fühle mich übersehen und muss gegen eine große Mattigkeit ankämpfen, vielleicht habe ich mir den ganzen Heinrich nur eingebildet. Hungerphantasien. Aber gab es nicht die Küsse, die Nacht und die Sätze – haben sie nicht einen Raum errichtet, dessen Statik noch gestern außer Frage stand? Vorvorgestern allerdings gab es den Raum noch gar nicht. Eine Begegnung ist ein Zufall, noch keine Geschichte. Es ist nur folgerichtig: Wer selbst einsturzgefährdet ist, hat grundsätzlich Schwierigkeiten, von stabilen Mauern auszugehen. Von den Himmelsrichtungen. Von der Zwei als gerader Zahl. Von der Zuverlässigkeit der Erdanziehung.
Als könnte er Gedanken lesen, hebt Heinrich, in die Küche zurückgekehrt, wo wir unschlüssig stehen bleiben, meinen Kopf am Kinn an, wie bei einem Kind, das vom Vater befragt wird. Wir stehen einen Moment lang Auge in Auge. Ich wende meinen Blick zuerst ab.
Wein?
Lieber Tee, sagt er.
Erzählst du es mir jetzt?
Was?
Deine Schulgeschichte.
Du sagst es so, als kenntest du sie schon, erwidert Heinrich bedrückt, und wir schweigen, bis ich zwei große Tassen mit kochendem Wasser gefüllt und die
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