Unter der Hand (German Edition)
sich auf, damit der vermeintlich fest sitzende Sattel sich später lockert und der haltlose Reiter herabstürzt. Die Mädchen fühlen sich mit diesem Wissen im Rücken ziemlich erfahren und straffen den Gurt nach einigen Minuten noch einmal. Im Gesicht den Ausdruck von Erziehern, die recht behalten werden.
Der Ausritt beginnt, die Freundin voran, ein Kampf, das Pferd vom Fressen abzuhalten: Es reißt an den Zügeln und nähert sich jedem Grasbüschel, statt auf dem ausgetrampelten Reitweg zu bleiben. Mückenstiche an Armen, in Gesicht und Nacken, Schweiß in den Augen. Endlich Rückweg!
Und dann geht das Pferd durch, dasselbe Pferd, das nur eine einzige Gangart zu kennen schien, nämlich Schritt, verfällt aus dem Stand in einen rasenden Galopp, die Zügel gleiten aus der Hand, mit gestrecktem Hals beschleunigt das Tier noch einmal. Ein Lärm wie von tausend Hufen – als würde eine ganze Kohorte auf Angriff reiten. Direkt auf einen Baum zu, Absprung im letzten Moment.
Bei der Bestrafung zu Hause wird gerecht darauf geachtet, dass die aufgeschürfte linke Seite geschont wird. Im eigenen Zimmer bleiben die Blicke der Trakehnerstute und des Araberhengstes auf den Postern rings ums Bett sanft und solidarisch auf die Verwundete gerichtet, das Fell spannt sich leuchtend über ihre Kruppen, als hätte Gott persönlich sie gestriegelt.
Die beiden Damen an der Rezeption verhindern ein weiteres Nachdenken über diese Frage, indem sie ihr Bedauern ausdrücken, keine Pferde anbieten zu können. Da höre ich: Nass geworden? Ich wende mich um, Claudia steht vor mir, im weißen Rüschenkleid. Ihr Blick wandert an mir auf und ab wie der Strahl einer Taschenlampe, mit kaum unterdrückter Belustigung in ihrer Stimme stellt sie die Diagnose:
Precipitazioni atmosferiche
.
Glockenhell das Berner Gelächter, in das sie ausbricht, Dur, Dur, Dur das ganze Geschöpf. Die Rüschen am Ausschnitt beben mit.
Precipitazioni atmosferiche
. Ich weiß, wovon sie spricht, auf dem Weg hierher sind sie auch mir aufgefallen, die Schilder am Straßenrand mit dem schleudernden Auto und der Warnung darunter:
In caso di precipitazioni atmosferiche
, also
im Falle von atmosphärischen Niederschlägen
, wobei
precipitare
ziemlich dramatisch ist,
abstürzen, herunterstürzen
bedeutet, verzeih, Vico, aber das muss ich ausführen, es ist zu schön, aus Claudias Mund solcher Scharfsinn! Wortwitz! Sie hat doch recht! Ich war atmosphärisch abgestürzt, ich war ins Schleudern geraten, das hatten Orestes milde Augen so wenig verhindern können wie mein innerer kleiner General, der immerzu
strammstehen!
kommandiert. Claudias Zunge stolpert nicht im Geringsten bei dem schwierigen Wort
precipitazioni
, sie frohlockt geradezu in Wiederholungen, mit wunderbar gerolltem r, gezischtem ci, und erst als ich sage: Heute in Zivil? Schönes Kleid!, beruhigt sie sich und nimmt das Kompliment zustimmend entgegen. Die Radfahrerkluft mag sie auch nicht.
Claudia legt mir den Arm um die Schultern, bis zu den ersten Pfirsichbäumen fällt kein weiteres Wort, nur ihre Schlappen sind auf dem Teer zu hören, ein sommerlicher, argloser Rhythmus. Zu meiner Erleichterung macht sie den Vorschlag, einen Kaffee zu trinken, Cappuccino vielmehr, sie lächelt wie die beste Freundin und rafft ihr Kleid zusammen, als müsse sie einen Endspurt hinlegen. Wir fallen auf die Plastikstühle, die Sonne bricht hervor, unter gleißendem Licht verdampft die Nässe. Claudia schiebt die Sonnenbrille aus den Haaren zurück auf die Nase, nun sehe ich nur mein Spiegelbild in ihren Gläsern, grotesk verkrümmt.
Sie nuckelt an ihrer Tasse herum, wippt mit dem Fuß, schaukelt den Stuhl, das ganze Programm, genüsslich.
Und unversehens kann ich es gar nicht mehr erwarten, von hier wegzukommen, weg von diesem harmlosen Blondschopf, den operettenhaften Duetten mit Vico, dem Diktat der Mahlzeiten: Ich habe genug.
Unter den geballten Wolken wird das Licht immer fieser; ich springe auf und lasse die verdutzte Claudia zurück – wollten wir nicht die Adressen tauschen, höre ich, falls du mal in Bern bist oder.
Falls!, rufe ich über die Schulter zurück, falls!
Zwei
Ich treffe die Vorbereitungen für den letzten Abend: Schäle mich aus den noch immer feuchten Kleidern, rüste mich mit einem Etui-Kleid und betrachte in dem wie mit Silbergelatine beschlagenen Spiegel über einen kleinen zweiten meine Rückseite: Unter dem dünnen Kleid ist die leicht verkrümmte Wirbelsäule deutlich zu erkennen, als habe
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