Unter der Hand (German Edition)
ausgelegt ist und heftig nachbebt. Dann heftet er seinen Blick auf mich, als wolle er überprüfen, wie sehr das Begehren auch mich ergriffen hat. Tatsächlich habe ich so etwas wie ein Operngefühl, aber mehr in dem Sinn, ein Duett anstimmen zu sollen und den Einsatz nicht zu kennen, ihn folglich zu verpassen. Also trinke auch ich erst einmal die Hälfte meines Glases aus, die Zeit nutzt Vico, um mir zu sagen, dass ich eine sehr begehrenswerte Frau bin.
Ich frage zurück, an welches Libretto er dabei dächte, hoffentlich nicht an
La Traviata
, denn an unglücklicher Liebe, Begehren und Tuberkulose einzugehen, stünde nicht auf meiner Agenda. Vico schaut mich ziemlich verächtlich an, und ich lese aus seinem Blick: Ich hätte dich für stärker gehalten, du hältst es offensichtlich nicht aus, ohne dürftige Witzeleien über solche ganze Welten erhaltenden und enthaltenden Dinge wie das Begehren zu sprechen.
Du hast ja recht, Vico, und für das Wort
Agenda
hätte ich Prügel verdient.
Ich fühle mich schnell betrunken, vom Aperitif, vom umgehend darauffolgenden Rosé, vom bevorstehenden Aufbruch aus diesem schützenden Garten, vom Überdruss. Keine gebratenen Tauben wurden hier geschenkt, nein, aber Vergesslichkeit und Erholung. Die Regie kam mir hier abhanden wie ein Muskeltonus, am liebsten hätte ich zu Oreste gesagt: Mach etwas aus mir! So wie aus deinen kleinen Teigkügelchen, deinen Pasten und passierten Früchten, mach etwas Schönes, Bekömmliches und Schmackhaftes aus mir. Keiner Zunge fremd.
Und ich greife nach dem erstbesten Gesprächsthema, Ferien in der Kindheit. Nein, nie in Italien! Italien gab es auf der Landkarte der Eltern nicht, mit den Alpen endeten die Neugier, Europa und die Sprachkenntnisse. Ich frage Vico, worauf er sich als Kind am meisten gefreut habe.
Auf die Stadiumsbesuche am Sonntag, zusammen mit dem Vater! Den Weg dorthin, auf dem Rücksitz der Vespa, Wind in den Haaren, Vorfreude auf Granita, den halbgefrorenen Fruchtsaft mit scharfkantigen Eisstückchen und den Sieg der
Fiorentina
. Rückfahrt: Wind in den Haaren und Wut im Bauch über gelegentliche Niederlagen. Ab Sonntagabend einsetzendes Vergessen, wieder Vorfreude und Hoffnung – so vergingen die Wochen sinnvoll.
Und du?
Ich denke nach. Und weiß es sofort – nur: Kann ich das Vico erzählen? Dass ich mich Jahr um Jahr auf ein Stück Holz gefreut hatte, das im Kärntner Urlaubsort am Ossiacher See in einen Zaun eingewachsen war? Vielmehr zu einem Baum oder Gehölz gehörte, dessen Zweig sich mit den metallenen Maschen des Zauns unauflöslich verbunden hatte, und es auch dann noch blieb, als der Baum bereits gefällt war. Der Weg zum See führte an dem Grundstück vorbei, und das in der Farbe dem rostigen Zaun angepasste Stück Holz schien förmlich auf mich zu warten, auf die Berührung mit der Fingerspitze, auf den eingehenden, prüfenden Blick nach Spuren, die das vergangene Jahr hinterlassen haben könnte, oder auf Anzeichen einer Lockerung des Bündnisses. Es gab sie nie. Der Ast war ein wunderbarer Einspruch gegen die Unbeständigkeit, der Ast war ein niemals gebrochenes Treuegelöbnis. So wie das Stück Holz vom Draht umschlungen wurde, so würde ich mich in jemandes Leben und seine Umarmung schmiegen, wenn ich das Kind hinter mir gelassen hätte, das damals in Holzschlappen von Dr. Scholl und trotz des ergonomischen Fußbetts ziemlich wacklig unterwegs war.
Vicos Blick ruht schon ein wenig glasig auf mir, vermutlich ist auch meiner nicht mehr der klarste, und ich verspüre Lust, mich richtig zu betrinken, Oreste in der Küche zu besuchen, die Finger in seine Töpfe zu stecken und die Nase in seine Angelegenheiten. Kurzum: Mir steht der Sinn nach Übertretung. Und ich berichte Vico von Ausritten in der Walachei, die es nie gegeben hat, von Tropfsteinhöhlen, in deren kalten Tümpeln Glücksmünzen schimmerten, und von Bären in den Karawanken. Je länger ich erzähle, umso mehr Schwung kommt in meine Kindheit, Glanz gar, ein weiteres halbes Glas später habe ich einen Bruder erdichtet und einen Schwimmlehrer, der mein ungewöhnliches Talent erkannt und gefördert hat und bei den Eltern mit dem Vorschlag, mich in ein Sportinternat zu schicken, um ein Haar Erfolg gehabt hätte.
Vico hebt beeindruckt sein Glas und sagt, meine Schulterpartie hätte ihn immer schon vermuten lassen, dass ich eine Klasseschwimmerin sei. Ich zucke mit ebendiesen Schultern (die allenfalls durch Trockenschwimmen als Überlebenstraining
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