Unter der Hand (German Edition)
der Reißverschluss einen ungehorsamen Nebenarm. Wenn's weiter nichts ist, sage ich zu den Spinnen, die zwischen den dunklen Dachbalken ihre Netze gespannt haben und ihre rätselhaften Augen auf nichts richten, weil ihnen noch die zarteste Bewegung der filigranen Fäden ausreicht, blind alle zum Töten notwendigen Vorkehrungen zu treffen.
Vico kommt im weißen Hemd und mit einem feierlichen Leuchten in den Augen. Wir sitzen uns auf zierlich geschmiedeten Stühlen gegenüber, im gläsernen Wintergarten des Restaurants, dessen beide Türflügel offen stehen; der Durchzug bewegt die Wedel der mächtigen Palmen, die in Terracotta-Töpfen strammstehen und den Eingang bewachen. Zum Anwärmen gibt es von Vico noch vor dem Aperitif eine kleine Salve von Komplimenten: Zum Kleid, zur Bräune, zur Intelligenz und zur deutschen Fußballnationalmannschaft. Im Kerzenschein fällt es mir leicht, das Aufgezählte mit einem knappen Nicken zu quittieren und eine positive Summe der Komponenten zu ziehen.
Wir sind bei unserem ersten Thema, beim Sport. Vico erläutert, warum er Laufen öde findet, und dass seine Kniegelenke streiken würden, täte er es. Ich lächle und denke, dass ich kein schlechter Souffleur wäre, denn ich weiß, was nun kommen muss: Winston Churchill,
no sports
, die eigene aktive Fußballerkarriere im Schnelldurchgang und zehn Gründe, warum Sex für den Kreislauf besser ist als jedes Ausdauertraining. Beim achten Grund bringt Oreste den Aperitif, wir stoßen auf gesunden Sex an, auf Mann und Frau, auf
La Fiorentina
(den Fußballverein von Florenz) und auf die Deutschen, jedenfalls auf diejenigen unter ihnen, die Puccini lieben. Das schließt mich eigentlich aus, ich sage es laut, im Tonfall eines aufmüpfigen Kindes: Mit
Tosca
kann man mich jagen. Wie angenehm es ist, sich gemeinsam in einem Klischee zu erholen, ja geradezu darin gemütlich zu machen. Wir folgten, ohne Absprache, demselben Drehbuch mit der Atmo Sommernacht:
Süden trifft auf Norden
. Vico reißt die Augen auf, hebt das Glas erneut, trotzdem
prost!
, und hält ein flammendes Plädoyer für Puccini. Dabei blitzt der zusätzliche Zahn auf wie ein zierlicher Dolch. Während er redet, betrachte ich die in der Zwischenzeit eingetrudelten Berner; sie sitzen an einer langen Tafel mitten im Raum, ihre Stimmen überschlagen sich in Feierabendlaune, sie haben die Kür des Oreste-Festessens vor, die Pflicht hinter sich, sind frisch gewaschen (wie Nebel steigt vom Tisch eine Wolke aus Duschlotions und Parfums auf), im Nacken die Haare noch feucht. Nur in die Nacht scheint niemand von ihnen lust- oder angstvoll vorauszudenken, die Paare, die es gibt, haben wohl mit der gemeinsamen Bewältigung steiler Anstiege ihr Pensum an Erregung und wechselseitiger Anteilnahme erfüllt. Die ganze Gruppe, auch Claudia, die mir den Rücken zuwendet und sichtlich schmollt, hat etwas Kindliches; auch Kinder gehen ganz in der jeweiligen Beschäftigung auf, bedenken Vergangenes nicht und denken Zukünftiges nicht voraus. Sie lassen sich einfach die Gegenwart schmecken. Ich würde mich nicht wundern, wenn plötzlich der ganze Tisch Seifenblasen aufsteigen ließe oder bunte Luftballons, und dazu
Lasst uns froh und munter sein
anstimmte, auch wenn die Weihnachtszeit nicht nah ist.
Vico ist in der Zwischenzeit erneut bei seinem Lieblingsthema angelangt, dem Begehren, und bei dem Satz
In Wahrheit ist Oper Begehren
wende ich ihm meine Aufmerksamkeit wieder zu und kann gerade noch rechtzeitig
warum?
fragen. Bei der Oper, erläutert Vico, geht Musik nicht ohne Körper, sie entsteht in und zwischen den Körpern der Liebenden, der Intriganten, der Betrogenen, der Schlauen und der Dummen – er zeichnet ein Diagramm auf die Serviette, mit vielen Pfeilen. Die Musik entweiche den Körpern wie Atem, im Rhythmus ihres Herzschlags, mal leidenschaftlich, mal melancholisch, mal gallig. Am Ende sei das Opernhaus bis unters Dach mit Begehren gefüllt! Und die Zuhörer atmeten es ein. Und aus. Auf dem Heimweg noch umgibt und erfüllt es alle, das Begehren, schließt Vico mit einer auch die Berner und das Universum umfassenden Armbewegung – ich zitiere:
Das Begehren ist der Sauerstoff der Oper
. Ohne es würde sie sterben, jämmerlich ersticken. Vico ist von seinen eigenen Ausführungen sichtlich mitgenommen, vom Begehren zerzaust; er trinkt in großen Schlucken sein volles Glas leer, füllt meines bis zum Rand, wirft sich in die Rückenlehne des Stuhls, der für solche robusten Manöver nicht
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