Unter der Haut (German Edition)

52 , 6  Hektar Land und fünf Angestellten in East Bergholt. Er hatte einen Hang zur Melancholie und zu philosophischer Dichtung, was womöglich der Grund dafür ist, dass er es in seinem Leben nicht allzu weit brachte. Er heiratete eine Matilda Cornish. Angehörige der Taylerfamilie waren in unterschiedlichen Stellungen in Banken beschäftigt, sie waren Beamte, Schriftsteller von geringer Bedeutung, häufig Bauern, die überall in Suffolk und Norfolk lebten. Im Zuge der Auswanderungswellen des neunzehnten Jahrhunderts gingen viele Taylers nach Australien und Kanada, wo etliche noch heute leben. Aber mein Großvater Alfred beschloss, kein Bauer zu werden. Er war Bankangestellter in Colchester. Seine Frau hieß Caroline May Batley.
    Das war die Frau, die mein Vater nicht ausstehen konnte – seine Mutter.
    Das Bild, das er von seinem Vater, Alfred Tayler, zeichnete, war das eines verträumten Mannes ohne Ehrgeiz, der in seiner freien Zeit in der Dorfkirche Orgel spielte und damit seine ehrgeizige Frau zur Verzweiflung brachte. Aber zu der Zeit, als ich diese Geschichte hörte, war mein Vater ebenfalls schon ein verträumter, anspruchsloser Mann, der seine arme Frau genauso zur Verzweiflung trieb. Und es ist eine Tatsache, dass mein Großvater es zum Direktor der London County Westminster Bank in Huntingdon brachte, wobei ich nicht weiß, ob er auch dort wieder in der Kirche Orgel spielte. Als Caroline May starb, heiratete er noch im selben Jahr wieder – eine weit jüngere Frau. Marian Wolfe war siebenunddreißig und er vierundsiebzig. Auch sie war Pfarrerstochter.
    Pfarrer und Bankangestellte, auf beiden Seiten der Familie, so steht es in den Akten.
    Caroline May Batley, die Mutter meines Vaters, ist beinahe so schattenhaft wie die arme Emily. Das Einzige, woran mein Vater sich gern erinnerte, war, dass sie die zwar schwere, aber äußerst schmackhafte Hausmannskost nach Mrs. Beetons Rezepten kochte. Eine Geschichte, die er immer wieder erzählte und die auch meine Mutter amüsierte, handelte davon, wie seine Mutter die Jungverlobten, die damals beide ziemlich krank waren, im Royal Free Hospital aufsuchte, um meinem Vater zu sagen, dass er es ewig bereuen werde, wenn er diesen Drachen, Schwester McVeagh, heiratete. Womit Caroline May von der Bühne abtritt. Es ist nichts über sie zu finden, nirgends. Aber ich denke mir, dass auch sie etwas über sich hätte erzählen können, wenn man sie gefragt hätte. Möglicherweise war sie mit Constable, dem Maler, verwandt. Der Gedanke gefällt mir.
    Meine Mutter verbrachte ihre Kindheit und Jugend damit, alles möglichst gut zu machen, um ihrem strengen Vater zu gefallen. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin, eine gute Hockey-, Tennis- und Lacrossespielerin, sie fuhr Rad, sie ging ins Theater und ins Varieté und besuchte Konzerte. Es ist erstaunlich, wie viel Energie sie besaß. Sie las fortschrittliche Bücher und war entschlossen, ihre Kinder nicht so kalt und freudlos aufwachsen zu lassen, wie sie selbst es erlebt hatte. Sie las Montessori und Ruskin und H. G. Wells, vor allem
Joan and Peter
, das Buch, in dem er die Erziehung aufs Korn nimmt, mit der unsere Kinder ruiniert werden. Sie hat mir erzählt, dass zu ihrer Zeit alle
Joan and Peter
lasen und entschlossen waren, es besser zu machen. Merkwürdig, wie einst einflussreiche Bücher untergehen. Von Kipling las sie alles. Bei
Der schwarze Jack
musste sie weinen, weil die Geschichte sie an ihre eigene Kindheit erinnerte.
    Dann wurde sie Krankenschwester und musste von einem Lohn leben, der so gering war, dass sie oft Hunger hatte und sich keine Handschuhe, Taschentücher oder eine schöne Bluse kaufen konnte. Der Weltkrieg brach aus, der Erste, und mein schwer verwundeter Vater wurde auf der Station eingeliefert, wo sie Schwester McVeagh war. Er lag dort über ein Jahr, und während dieser Zeit wurde ihr gründlich das Herz gebrochen, denn der junge Arzt, den sie liebte und der ihre Liebe erwiderte, ging mit einem Schiff unter, das von einem Torpedo getroffen worden war.
    Während meine Mutter zunächst als vorbildliches viktorianisches und dann als vorbildliches edwardianisches Mädchen heranwuchs, verlebte mein Vater eine glückliche Jugend auf dem Lande, denn er verbrachte jede Minute, die er nicht in der Schule sein musste, mit den Bauernkindern um Colchester; anders als meine Mutter, die die Schule, in der sie so gut war, liebte, hasste er diese Einrichtung. Seine Eltern schlugen ihn – wer mit der Rute