Unter der Haut (German Edition)
Tod bewahrten. Es waren idealistische und naive Männer; sie hatten tatsächlich geglaubt, dass sie einen Krieg führten, der allen Kriegen ein Ende setzen sollte. Und mein Vater hatte in London eine weiße Feder geschenkt bekommen, von Frauen, die er als scheußliche Vetteln beschrieb – und zwar zu einem Zeitpunkt, als er schon ein Holzbein unter dem Hosenstoff hatte und seine »Kriegsneurose« ihn zweifeln ließ, ob es sich lohnte weiterzuleben. Diese weiße Feder vergaß er nie, in seinen Augen war sie eines der zahllosen Zeichen für den unausrottbaren, unrettbaren und hoffnungslosen Wahnsinn der Welt.
Er musste aus England fort, denn er konnte das Land nicht mehr ertragen, und er bewegte seine Bank dazu, ihn an die Imperial Bank of Persia zu versetzen, nach Kermanschah. Heutzutage verwende ich den Namen Imperial Bank of …, um die Reaktion zu beobachten, die Ungläubigkeit und das darauf folgende Lachen, weil so vieles aus jener Zeit so herrlich absurd klingt, genauso wie – na, wie irgendetwas, das uns jetzt selbstverständlich ist, unseren Kindern merkwürdig vorkommen wird.
Meine Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch, ich glaube, wegen der schwierigen Entscheidung, die sie zwischen der Ehe und ihrer beruflichen Karriere zu treffen hatte. Und wegen ihrer verlorenen Liebe, die sie nie vergaß. Und weil sie im Krieg so hart gearbeitet hatte und weil sie so viele Männer hatte sterben sehen und weil … Es war 1919 , das Jahr, in dem eine Grippe-Epidemie 29 Millionen Menschen dahinraffte, was aus irgendeinem Grund in den Geschichtsbüchern über diese Zeit nicht erwähnt wird. Zehn Millionen kamen im Großen Krieg um, größtenteils in den Schützengräben, eine Zahl, derer wir noch jedes Jahr am 11 . November gedenken, aber an der Grippe, auch The Spanish Lady genannt, starben 29 Millionen Menschen.
Mein Vater war immer noch dem Zusammenbruch nahe, obwohl er den Tiefpunkt seiner Depressionen überschritten hatte. Die Ärzte hatten geraten, mit dem Kinderkriegen noch zu warten. Meine Eltern machten Witze darüber, dass meine Mutter in der ersten Nacht schwanger geworden sein musste. Damals warteten die Leute wirklich oft bis zur Hochzeitsnacht. Aber da ist noch etwas anderes. Meine Mutter war 1919 fünfunddreißig, und das galt damals als sehr alt, um mit dem Kinderkriegen anzufangen. Als Krankenschwester muss ihr bewusst gewesen sein, welche Gefahr im Warten lag. Vielleicht trug eine innere Stimme, von der meine Mutter nichts wusste, dazu bei, dass sie sofort schwanger wurde.
Und so trafen die zwei dann, beide noch ziemlich angeschlagen, in dem großen Steinhaus auf einer von weißen Bergen umgebenen Hochebene in der alten Handelsstadt Kermanschah ein – der Ort wurde im Krieg zwischen Irak und Iran in den achtziger Jahren schwer verwüstet, zum Teil dem Erdboden gleichgemacht.
Und dort wurde ich am 22 . Oktober 1919 geboren. Meine Mutter hat schrecklich gelitten. Es war eine Zangengeburt. Mein Gesicht hatte noch tagelang blaue Flecken. Ob ich glaube, dass diese schwere Geburt mich gezeichnet – das heißt meinen Charakter geprägt hat? Wer weiß. Wichtig ist auf jeden Fall die Tatsache, im Jahr 1919 geboren zu sein, als halb Europa ein Friedhof war und Millionen von Menschen überall auf der Welt starben. Wie sollte es auch anders sein? Es sei denn, man glaubt, dass der Geist eines jeden kleinen menschlichen Wesens ganz und gar für sich allein und völlig losgelöst vom allgemein menschlichen Geist existiert. Und das ist höchst unwahrscheinlich.
Dieser Krieg erscheint mir jetzt nicht weniger einschneidend als früher, im Gegenteil. Als ich 1990 anfing, an diesem Buch zu schreiben, hielt ich mich gerade in Südfrankreich auf, in der Hügellandschaft hinter der Riviera, wo ich mir die reizenden kleinen Städte und Dörfer anschaute, die vor Jahrhunderten als Bergfesten gegründet worden sind. In jedem Dorf und in jeder kleinen Stadt steht ein Kriegerdenkmal. An einer Seite befindet sich jeweils eine Liste der zwölf oder zwanzig jungen Männer, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind, und das in winzigen Dörfern, die selbst heute nur ein halbes Hundert Einwohner haben. Meist sind sämtliche jungen Männer eines Dorfes umgekommen. Überall in Europa, in jeder Groß- und Kleinstadt, in jedem Dorf steht ein Kriegerdenkmal mit den Namen der Toten aus dem Ersten Weltkrieg. An einer anderen Seite des häufig obeliskförmigen Mahnmals stehen die zwei, drei Namen der Toten aus dem Zweiten
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