Unter der Haut (German Edition)
wenige Seiten füllen würde, aber das traurigste wäre.
»Die Informationen über Familie Flower habe ich aus Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden, Kirchenregistern, Volkszählungsunterlagen, Lehrherren- und Kahnführerberichten, Leichterschiffer- und Fährmannsbüchern, lokalhistorischen Aufzeichnungen und Testamenten zusammengetragen«, schreibt die Genealogin und beschwört mit einem Satz das England von Charles Dickens herauf.
Es hat einen Henry Flower gegeben, der 1827 als Schiffer geführt ist und bei der Volkszählung von 1851 als Lebensmittelhändler.
Er wurde in Somerset geboren und seine Frau Eleanor in Limehouse. Ihr gemeinsamer Sohn, George James Flower, Vater der pflichtvergessenen Emily, ist bei einem John Flower in die Lehre gegangen, vermutlich einem Verwandten. Die Flowers waren Lastkahnbesitzer, und auf Emilys Geburtsurkunde ist ihr Vater als Leichterschiffer geführt.
Der Flowerclan lebte in und um Flower Terrace, einer mittlerweile abgerissenen Häuserzeile, in der George James und seine Frau Eliza Miller die Nummer drei bewohnten. Das war in Poplar, unweit des heutigen Canary Wharf. Sie hatten vier Kinder. Eliza wurde mit fünfunddreißig Witwe, und wie groß der Zusammenhalt und die Hilfsbereitschaft des Clans waren, lässt sich an der Tatsache ablesen, dass die Leichterschiffer und Fährleute ihr zu einer Zeit, als das für Frauen noch in keiner Weise üblich war, gestatteten, einen Lastkahn zu besitzen und Lehrlinge auszubilden. Eliza nahm ihren Sohn Edward zu sich in die Lehre, und er trat später ihr Erbe als Leichterschiffer und Lastkahnbesitzer an. Ihren Kindern ging es gut, und sie verlebte ihre letzten Jahre in einem hübschen Haus, abgesichert durch eine Rente. Emily war die Jüngste, und sie heiratete John William McVeagh im Jahr 1883 .
Meine Mutter beschrieb das Haus, in dem sie aufgewachsen war, als hoch, schmal, kalt, dunkel, deprimierend und ihren Vater als strengen, Angst einflößenden Zuchtmeister, der stets moralische Ermahnungen im Munde führte.
Die begüterte Arbeiterschicht führte zu spätviktorianischen Zeiten ein angenehmes Leben, man ging sonntags zum Rennen und feierte ständig Feste aller Art. Man aß und trank nach Herzenslust. Flower Terrace und vergleichbare Straßen, in denen Freunde und Verwandte beisammenwohnten, hatten nichts Trübes oder Kaltes. Aus diesem behüteten Leben innerhalb eines innigen Familienverbandes kam Emily in die zweifellos leidenschaftlichen Arme des John William McVeagh – er muss sehr verliebt gewesen sein, um sie zu heiraten –, aber es wurde von ihr erwartet, dass sie sich seinem Ehrgeiz gemäß verhielt, dass sie sich dem entsetzlichen Snobismus eines Mannes beugte, der um jeden Preis die Arbeiterklasse hinter sich lassen wollte. Ich stelle mir vor, sie ist, sooft es ging, zu ihrer gewöhnlichen, einfachen Familie nach Hause geflohen, um zu tanzen, sich zu amüsieren, mit ihnen zum Rennen zu gehen. Sie muss im Hause ihres Mannes in einem kalten Nieselregen der Missbilligung gelebt haben, an dem sie, so sehe ich es wenigstens, mit zweiunddreißig Jahren gestorben ist.
Meine Mutter hat ihren Großvater, John Williams Vater, nie erwähnt, und das bedeutet, auch John William hat nicht von ihm gesprochen, ebenso wenig wie von Emily.
»Die Informationen über die Familie«, sagt die Familienforscherin, »haben wir anhand von Geburten, Todesfällen, Eheschließungen zusammengetragen, sie stammen aus Kirchenbüchern, Armeeakten des Public Record Office und Büchern über den Totenritt von Balaklawa, Volkszählungsunterlagen, Testamenten und Adressbüchern. Über John McVeaghs Geburtsdatum und Geburtsort gibt es widersprüchliche Angaben. Daten in Armeeakten zu Geburt und Beruf sind oft fehlerhaft, da Soldaten, wenn sie sich meldeten, aus uns unbekannten Gründen falsche Angaben machten und eine Kontrolle vor 1837 kaum möglich war. Außerdem nahmen es die Rekrutierungsbüros der Armee im neunzehnten Jahrhundert damit nicht so genau.«
John McVeagh kam in Portugal zur Welt, sein Vater war Soldat im vierten Dragonerregiment und hatte es, als er das Militär 1861 verließ, zum Oberfeldwebel im Lazarett gebracht. Er war auf der Krim und in der Osttürkei dabei gewesen und auch beim Totenritt von Balaklawa – und zwar wirklich, im Gegensatz zu so vielen Soldaten, die es einfach behaupteten, ohne dass es den Tatsachen entsprach. Aber weshalb wollten sie bei solch einem Blutbad dabei gewesen sein? Urgroßvater John war ein
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