Unter der Haut (German Edition)
habe höchstens mal einen Namen auslassen oder verändern müssen. Band eins wird demnach ohne Gewissensnöte und Lücken geschrieben. Doch Band zwei, der mit meiner Ankunft in London beginnt, wird etwas ganz anderes, auch wenn ich Simone de Beauvoirs Beispiel folge, die sagte, dass sie bei einigen Dingen gar nicht die Absicht habe, die Wahrheit zu sagen. (Wozu aber dann die Mühe?, wird sich wohl mancher Leser fragen.) Ich habe eine ganze Reihe berühmter Leute gekannt und sogar einen oder zwei weltberühmte, aber ich bin nicht der Ansicht, dass Freunde, Liebhaber und Genossen dazu verpflichtet sind, alles auszuplaudern. Je älter ich werde, desto mehr Geheimnisse habe ich, die niemals verraten werden; und das ist, wie ich weiß, bei vielen Menschen in meinem Alter der Fall. Warum legt man so viel Wert darauf zu wissen, wer wen wann geküsst hat? Küsse sind noch das Uninteressanteste.
Ich lese historische Betrachtungen mit Vorbehalt. Ich war im Kleinen an großen Ereignissen beteiligt und weiß, wie schnell Berichte darüber ein schiefes Bild entstehen lassen, wie ein gesprungener Spiegel. Einige Biografien von Leuten, die sich entschlossen haben, den Mund zu halten, lese ich voll Bewunderung. Nach meiner Beobachtung drängen sich in aller Regel Leute in den Vordergrund, die mit einem Ereignis oder einer Lebensgeschichte nur am Rande zu tun haben: Wer wirklich Bescheid weiß, sagt oft nichts oder nur wenig. Einige der lautesten, um nicht zu sagen scheußlichsten Skandale oder Affären unserer Zeit werden – obwohl seit Jahren ein Scheinwerferlicht auf sie gerichtet ist – von der Öffentlichkeit nicht richtig gesehen, weil die eigentlichen Akteure ihre Meinung für sich behalten und, Ironie des Schicksals, aus dem Schatten zuschauen. Und es spielt noch etwas mit, das viel schwerer zu erkennen ist. Menschen, die wirklich etwas bewegen und die Gemüter erregen, werden aus der Geschichte ausgelassen, und zwar weil das Gedächtnis selbst beschließt, sie auszusondern. Diese Initiatoren sind extravagant, skrupellos, hysterisch, bisweilen verrückt, immer aggressiv; wesentlich aber ist, dass sie augenscheinlich aus einem anderen Holz geschnitzt sind als die glatten, rationalen, vernünftigen, die sich von ihnen inspirieren lassen und die sich ungern an ein zeitweiliges Eintauchen in den Wahnsinn erinnern. Oft stößt man bei der Lektüre von Geschichtsbüchern auf Ereignisse, die sich nicht recht erklären lassen, und dann kann man davon ausgehen, dass es da einen Verrückten gegeben haben muss, einen Mann oder eine Frau mit dem Feuer der Inspiration, den man rasch vergessen hat, weil die Vergangenheit immer und zu allen Zeiten bereinigt und sicherer gemacht wird. Menschen, die wirklich etwas bewegen, sind gewöhnlich »wilde Tiere«. Ohne eine solche beseelende Gestalt hätte es in Südrhodesien keine »Kommunistische Partei« gegeben.
Frauen werden häufig aus dem Gedächtnis und dann aus der Geschichte gestrichen.
Das Problem, ob man die Wahrheit sagt oder nicht und wie viel man sagt, ist leichter zu lösen als die Frage wechselnder Perspektiven, denn wir sehen unser Leben in jeder Phase unterschiedlich, wie beim Bergsteigen, wo sich die Landschaft mit jeder Wegbiegung verändert. Wenn ich dieses Buch mit dreißig geschrieben hätte, wäre es ein ziemlich aggressives Dokument geworden. Mit vierzig ein Aufschrei der Verzweiflung, voller Schuldgefühle. Jetzt blicke ich mit zunehmend distanzierter Neugier zurück auf das Kind, das Mädchen, die junge Frau. Man kann alte Leute häufig dabei beobachten, wie sie sich mit ihrer Vergangenheit beschäftigen – sie fragen sich:
Warum? Wie ist das passiert?
Ich versuche, meine Person in der Vergangenheit mit den Augen eines andern zu sehen und mich dann in eine dieser früheren Personen hineinzuversetzen, und stecke unverzüglich mittendrin in einem heißen Kampf der Emotionen, der sich mit Denkweisen und Ideen rechtfertigt, die ich heute für falsch halte.
Weiterhin ist da das Problem der Schauplätze. Beim Schreiben stellt sich sofort die Frage, warum man sich an das eine erinnert und an das andere nicht. Warum steht eine ganze Woche, ein Monat oder ein noch größerer Abschnitt eines längst vergangenen Jahres in allen Einzelheiten vor einem, und dann ist wieder alles schwarz und leer?
Woher weiß man, ob das, woran man sich erinnert, wichtiger ist als das, wovon man nichts mehr weiß?
Und wenn gar keine Schauplätze da sind? Das gibt es. Ich saß einmal beim
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