Unter der Haut (German Edition)
jedes Wort, das Sie sagen, aufzeichnet, und trotzdem enthält der Artikel oder das Interview schwerwiegende Tatsachenverdrehungen. Aber Fakten zählen ohnehin immer weniger, und das liegt unter anderem daran, dass Schriftsteller wie Haken sind, an denen die Leute ihre Fantasien aufhängen. Wenn es Schriftstellern wichtig ist, dass etwas, das über sie geschrieben wird, irgendwo mit der Wahrheit zu tun haben sollte – kann das bedeuten, dass wir kindisch sind? Vielleicht schon. Jedenfalls fühle ich mich mit jedem Jahr mehr und mehr wie ein lebender Anachronismus. Als ich einmal nach einem Jahr wieder nach Paris kam, wurde ich von einer jungen Frau interviewt, die mich schon beim letzten Mal befragt hatte. Ich wies sie darauf hin, dass ihr damaliger Artikel ziemlich frei erfunden gewesen sei, und sie entgegnete: »Aber wenn Sie Ihren Artikel zum Termin fertig haben müssen und der Stoff reicht nicht, würden Sie sich nicht auch etwas ausdenken?« Es war klar, dass sie mir ein Nein nicht geglaubt hätte. Und das bringt mich zum Kern des Problems. Junge Leute, die im heutigen literarischen Klima groß geworden sind, können nicht glauben, wie es früher war. Man wird skeptisch angesehen, wenn man etwa sagt: »Früher haben sich ernsthafte Verleger Mühe gegeben, für ihre ernsthaften Autoren ernsthafte Biografen ausfindig zu machen.« Jetzt hält es jeder für selbstverständlich, dass alle nur daran interessiert sind, so viele Biografien wie möglich auf den Markt zu bringen, und seien sie noch so mittelmäßig. Weil Biografien sich gut verkaufen. Da können Schriftsteller so laut protestieren, wie sie wollen: Unser Leben gehört uns nicht.
Wenn ich die Kontrolle über mein eigenes Leben behalten will, indem ich eine Autobiografie schreibe, muss ich mich zugleich fragen: Erzähle ich die Wahrheit? Einige Aspekte meines Lebens versuche ich ständig besser zu verstehen. Darunter – wie sollte es anders sein – die Beziehung zu meiner Mutter, aber was mich jetzt interessiert, ist nicht der begrenzt persönliche Aspekt. Ich war, soweit ich zurückdenken kann, ständig vor ihr auf der Flucht und habe mich im Alter von vierzehn Jahren in einer Art innerer Emigration halsstarrig von allem abgewandt, was sie verkörperte. Ja, natürlich müssen Mädchen erwachsen werden, aber war es immer schon ein so erbitterter Kampf? Heute sehe ich sie als tragische Gestalt, die ihre Enttäuschungen mit Mut und Würde durchlebt hat. Ich habe sie auch damals als tragisch empfunden, mit Sicherheit, aber ich war nicht in der Lage, freundlich zu ihr zu sein. Tagtäglich kann man erleben oder hören, dass ein junger Mensch, zumeist ein Mädchen, den Eltern, häufig der Mutter, so übel mitspielt, dass man es fast schon grausam nennen muss. Später heißt es dann: »Ich fürchte, ich war damals schwierig.« In den Kampf fließt erstaunlich viel Bosheit und Rachsucht ein. Nach alten Geschichtsbüchern und Romanen zu urteilen, war es früher anders. Was ist also geschehen, warum jetzt? Warum betrachten wir es heute als unser Recht, unangenehm zu sein?
Ich habe eine Freundin, die im Zweiten Weltkrieg mit ihrem Kind nach New York ging, weil sie in Großbritannien, wo sie zu Hause war, kein Auskommen hatte. Sie verdiente ihren ziemlich unsicheren Lebensunterhalt als Künstlermodell und gelegentlich als Mannequin. Sie lebte in einer Kleinstadt bei New York. Sie war arm, isoliert und sehnte sich mit ihren zwanzig Jahren nach Abwechslung und Vergnügen. Einmal, nur ein einziges Mal, ließ sie ihren kleinen Sohn bei Freunden, verbrachte den Abend in New York und kam erst im Morgengrauen nach Hause. Wie oft habe ich mit anhören müssen, wie dieser Junge, mittlerweile ein Halbwüchsiger, sie bitter beschuldigte: »Du hast mich Abend für Abend allein gelassen und bist ausgegangen, um dich zu amüsieren.« Ein kleiner Junge, der Sohn von Eltern, die nichts davon hielten, Kinder zu schlagen, hatte einmal einen Klaps auf die Finger bekommen, als er nicht aufhören wollte, Löcher in das Papier zu bohren, mit dem die Marmeladengläser verschlossen waren. Daraus wurde: »Und ihr habt mich geschlagen, als ich klein war.« Mögen diese kleinlichen Erinnerungen zur Veranschaulichung reichen.
Jahrelang war meine Haltung gegenüber meiner Mutter die einer Anklagenden, zuerst voll heißer Empörung, später dann kalt und hart, und der Schmerz, um nicht zu sagen das Leid, war tief und echt. Doch jetzt frage ich mich, an welchen Erwartungen, welchen
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