Unter der Haut (Hauptkommissar Leng ermittelt) (German Edition)
gerechnet hatte, wäre es fast zu einem Unfall gekommen. Im letzten Moment wich Mathilde Schneider auf den Bürgersteig aus, nicht ohne dem Fahrer einige obszöne Bemerkungen hinterher zu schicken. In ihrer Wut hätte sie dabei fast das Bündel übersehen, das jemand am Teich abgelegt hatte. Jetzt steigerte sich ihre Wut noch. Wie konnte es irgendein Idiot wagen, an so einem beschaulichen Ort seinen Müll zu entsorgen? Erst als die Straßenführung sie näher an den vermeintlichen Abfall heran führte, erkannte sie zu ihrer Bestürzung, dass das Bündel einen Kopf hatte und Arme und Beine, die eng an den Körper gepresst waren.
Dann sah sie das Blut. Überall um den Kopf herum war Blut, Selbst bei der schwachen Beleuchtung konnte sie es deutlich erkennen. Sie überlegte, ob sie dem Taxifahrer nachfahren und ihn bitten sollte, die Polizei zu benachrichtigen, aber dann entschloss sie sich, dies selber zu tun. Mit zittrigen Fingern holte sie ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche und rief die dreistellige Notrufnummer an. Der Dienst habende Beamte versprach, auch einen Unfallwagen zu verständigen, obwohl Mathilde Schneider fast sicher war, dass der hier nichts mehr ausrichten konnte. Sie wurde aufgefordert, in jedem Fall auf das Eintreffen der Beamten zu warten. Das war nun etwas, was ihr überhaupt nicht passte. Sie arbeitete als Kassiererin in einem Großmarkt in Roisdorf und würde Schwierigkeiten bekommen, wenn sie nicht pünktlich am Arbeitsplatz erschien. Ihr Zug war ohnehin weg, und so wie es aussah, würde sie auch den nächsten fahren lassen müssen.
2
Lange bevor der erste Sonnenstrahl Licht in die Stadt brachte, waren der Teich und die angrenzenden Wege taghell ausgeleuchtet. Als Erste erschienen die Leute von der Spurensicherung. Obwohl noch recht früh, hatten es sich auch einige Anrainer nicht nehmen lassen, den interessanten Fund aus der Nähe zu betrachten, wobei die meisten enttäuscht wieder um-kehrten, nachdem ihnen klar geworden war, dass hier kein neuer Tatort gedreht wurde. Eine wirkliche Leiche bot offensichtlich keine Sensation mehr.
„Schafft mir die Leute vom Hals.“
Kriminalhauptkommissar Wilfried Leng bemühe sich erst gar nicht, seine schlechte Laune zu verbergen. Noch vor einer Stunde hatte er in seinem warmen Bett gelegen, eingehüllt in einen überaus angenehmen Traum, in dem er sich mit Elsa, der fülligen Bedienung aus seiner Stammkneipe, auf die er schon seit Monaten ein Auge geworfen hatte, an einem griechischen Strand aufhielt und sich von den wärmenden Strahlen der Sonne verwöhnen ließ.
Er war froh, dass es wieder positive Gefühle gab, die seinen Schlaf begleiteten. Nach dem Krebstod seiner Frau waren Albträume sein ständiger Begleiter gewesen. Fast drei Jahre lang war kaum eine Nacht vergangen, in der er nicht Schweiß gebadet aufgewacht war und danach keinen Schlaf mehr gefunden hatte. Er hatte die ganze Palette ausprobiert, u m seinen Schmerz zu bekämpfen: Schlaftabletten, Bier, Rotwein, Schnaps; aber er hatte sich immer elender gefühlt. Auch eine drastische Anhebung der Nikotinzufuhr hatte nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt, wohl aber zu so unangenehmen Begleiterscheinungen wie rasselnden Lungenflügeln und einem Ausschlag am Hals und im Gesicht. Schließlich erkrankte er an einer seltenen, aber auch besonders gemeinen Krebsart. Supra-glottisches Larynxkarzinom (ein Tumor im Bereich des Kehldeckels und der Tasche in der Nähe der Stimmbänder) lautete die nieder schmetternde Diagnose, die kurioserweise seine Rettung bedeutete. Auf einmal wollte er wieder leben.
Er fing an, verschiedene Bücher über Krebserkrankungen und Heilungschancen zu lesen, wobei sich die ernst zu nehmenden Werke nicht auf die üblichen Therapien wie Bestrahlungen und Chemogaben beschränkten, sondern dem emotionalen Aspekt breite Aufmerksamkeit widmeten. Früher hätte er schallend gelacht über Sätze wie In jeder nicht geweinten Träne steckt die Saat für ein Karzinom oder Unsere unterdrückten Ängste und Wünsche schaffen den idealen Nährboden für eine ganze Reihe von Krankheiten. Den nachhaltigsten Eindruck hatte auf ihn jedoch der Vergleich der Seele des Menschen mit einer Landschaft gemacht, durch die sich ein Fluss schlängelt, der eine üppige Vegetation ermöglicht. Wird das Wasser nun vergiftet, leiden darunter natürlich die Pflanzen, manche mehr und manche weniger, abhängig vom jeweiligen Standort und Nahrungsbedarf. All unsere Gedanken entsprechen diesem
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