Unter der Haut (Hauptkommissar Leng ermittelt) (German Edition)
auch deshalb, weil es ihn an seine eigene, gerade überwundene Depression erinnerte.
„So, meinen Sie?“ giftete Mathilde Schneider ihn an. „Wenn der Idiot mich erwischt hätte, wäre ich jetzt ein Klumpen lebloses Fleisch. Wahrscheinlich hätte der nicht mal angehalten, sondern die Flucht ergriffen. Erfüllt das nicht zumindest den Tatbestand des versuchten Mordes?“
Was sollte Leng darauf erwidern? Dass Mord Planung und Absicht voraussetzte? Außerdem bezweifelte er, dass bei einem Zusammenprall mit Todesfolge der Wagen noch fahrtüchtig gewesen wäre. Diese Vermutung behielt er allerdings für sich, weil er befürchtete, dass ihm seine Überlegung als Diskriminierung übergewichtiger Frauen au sgelegt werden könnte. Wie sehr sie ihn doch alle verkannten. Er liebte es gern etwas molliger, aber das hatte er sich auch erst vor kurzem eingestanden. Der Sägebrecht-Verschnitt ging ihm einfach gehörig auf die Nerven.
„Sie können jetzt gehen.“
Sie starrte ihn an, als ob er sich eine Boshaftigkeit für sie ausgedacht hätte, auf die sie nicht einmal eine Erwiderung fand.
„Eben schien es noch so, als ob Sie mich hier ewig festhalten würden und auf einmal…“
Sie hielt mitten im Satz inne, ihr Gesichtsausdruck eine Mischung aus Überraschung und Ärger.
„Ich dachte, es wäre in Ihrem Sinne, wenn Sie möglichst schnell zum Bahnhof kämen.“
Er wollte sich abwenden, drehte sich dann aber doch noch einmal um.
„Wenn wir weitere Fragen haben, werden wir Sie aufs Präsidium bitten. Und natürlich können wir Ihnen auch eine Bestätigung für Ihren Arbeitgeber ausstellen.“
Dieses Entgegenkommen quittierte Mathilde Schneider mit einem zufriedenen Lächeln. Danach schwang sie sich aufs Rad und verschwand in der Dunkelheit.
„Irgend etwas Interessantes über die Todesursache?“
Leng galt nicht gerade als Ausbund der Gesprächigkeit, aber an diesem Morgen wirkte er noch wortkarger als sonst. Vielleicht war dies ja der Grund dafür, dass sich der Gerichtsmediziner bei der Frage nicht sofort angesprochen fühlte.
„Nun?“ Das klang schon deutlich ungehaltener.
Robert Sand, mit seinen neununddreißig Jahren einer der Jungen im Team, ließ sich bei seiner Arbeit nur ungern stören. Warum konnten sie ihn nicht seine Untersuchungen machen lassen und abwarten, bis er sie ausgewertet hatte? Mit Halbheiten vermochte doch eh keiner etwas anzufangen. Er wusste allerdings nur allzu gut, dass sich kein Kriminalbeamter, schon gar keiner wie Leng, der immer besonders ungeduldig und voller Tatendrang war, mit nichts abspeisen ließ. Was blieb ihm also anderes übrig, als das Wenige gut zu verkaufen, dabei aber so vage zu formulieren, dass bei einer eventuell später auftretenden Abweichung von Tatwaffe und -zeit keine Kritik laut würde. Zwar zweifelte niemand seine Kompetenz wirklich an, da er zu den besten seines Fachs gehörte, aber Neid gab es ja bekanntlich überall.
„Schauen Sie her“, forderte er den Hauptkommissar auf und deutete auf das Gesicht des Toten. „Bei Zimmertemperatur setzt die Leichenstarre nach ein bis zwei Stunden ein, zuerst an den Augenlidern und Kaumuskeln. Es folgen kleine Gelenke, Hals und Nacken und dann geht es immer weiter abwärts. Erst nach vierzehn bis achtzehn Stunden ist sie voll ausgeprägt. Bei Kälte verzögert sich dieser Prozess natürlich. Und was sehen Sie nun?“
„Dass die Leichenstarre noch nicht voll ausgebildet ist?“
„Kann sie ja auch nicht. Das dauert, wie ich eben erläutert habe, viel länger. Betrachten Sie nur das Gesicht.“
Leng bemühte sich, konnte aber nicht sagen, ob die steifen Augenlider Folge der Leichenstarre oder der Kälte waren. Er kam sich vor wie ein Pennäler, der die ihm gestellte Aufgabe nicht zu lösen vermochte. Sand erlöste ihn schließlich.
„Die Starre in den Kaumuskeln, die noch immer nicht komplett ausgebildet ist, hilft uns bereits, den Todeszeitpunkt einzugrenzen. Zwischen eins und vier würde ich annehmen. Was natürlich noch keinen Aufschluss darüber gibt, wann der Angriff erfolgte, der für die Ermittlung des Täters von größter Bedeutung ist; aber bei den Wunden hier am Kopf behaupte ich, dass der Tod unmittelbar eingetreten ist.
Sand erweckte den Eindruck, als unterhielte er sich mit der Leiche und nicht mit dem Hauptkommissar.
„Eine genauere Eingrenzung ist nicht möglich?“
Das war eine der üblichen Fragen, die der Gerichtsmediziner nicht mehr hören konnte, obwohl ihm klar war, dass eine genaue
Weitere Kostenlose Bücher