Unter die Haut: Roman (German Edition)
gerechtfertigt«, sagte er leise. »Sie hatten keine andere Wahl.«
Die Augen, die seinen Blick erwiderten, waren in den zwanzig Minuten, seit Vincent den Jungen vom Revier mitgenommen hatte, um Jahre gealtert. »Warum fühle ich mich dann so beschissen?«
Vincent sah ihn ruhig an. »Wahrscheinlich weil Sie ein anständiger Mensch sind.« Er nickte zu der weinenden Frau in seinen Armen. »Aber Sie haben ihr das Leben gerettet, und dafür danke ich Ihnen. Der Kerl hätte sie sonst getötet.«
Der Polizist nickte. »Ja, ich weiß.« Er richtete sich auf und sagte: »Ich sichere jetzt den Tatort, Sir.«
Vincent sah wieder auf Ivy hinunter. Sie war etwas ruhiger geworden, schniefte und atmete keuchend und hielt ihre Wange noch immer gegen seine Brust gepresst. Sanft berührte er mit dem Finger einen Blutstropfen, der sich unter ihrem rechten Nasenflügel gebildet hatte. Dann nahm er eine Ecke der Decke und tupfte ihn weg. »Ivy, ich muss dir jetzt ein paar Fragen stellen.«
Sie stöhnte.
»Ich weiß, ich weiß. Es tut mir Leid, Liebes, aber das gehört nun mal zu meinem Job. Möchtest du lieber mit einer Frau sprechen? Ich kann Suse McGill holen lassen.«
Sie schüttelte den Kopf. Eine ganze Weile lastete gespanntes Schweigen auf ihnen, dann seufzte sie, schniefte und wischte ihre Nase an seinem Hemd ab. »Er hat mich nicht vergewaltigt, Vincent«, flüsterte sie.
Sie spürte das heftige Schlagen seines Herzens an ihrer Wange und hob langsam den Kopf, um ihm ins Gesicht zu sehen.
»Wirklich?« Danke, lieber Gott, danke. Als er gesehen hatte, wie Griffus zwischen ihren nackten, gespreizten Beinen lag, war er überzeugt gewesen, dass er zu spät gekommen war. Vincent spürte, wie ein schweres Gewicht von seinem Herzen genommen wurde. Er drückte sie fest an sich und küsste sanft ihre Stirn. »Willst du mir nicht erzählen, was geschehen ist?«
Wieder begann sie zu weinen. »Oh Gott, Vincent, es war so schrecklich«, schluchzte sie. Um Fassung ringend fuhr sie mit rauer Stimme fort: »Es war so ernied…, ernied…« Sie atmete tief ein, hielt einen Moment lang die Luft an und stieß sie dann aus. »Er hat mich so erniedrigt. Er hat mich – als – Hure beschimpft und als F-fotze. Hat mich gezwungen, mich nackt auszuziehen und dann über meinen Körper geredet und darüber, wie du … du und ich, wie wir …«
»Uns lieben«, ergänzte Vincent durch zusammengebissene Zähne. Das Schwein konnte von Glück sagen, dass er schon tot war. Für das, was er ihr angetan hatte, hätte er ihn gerne umgebracht.
»Nur hatte es so, wie er davon sprach, nichts mit Liebe zu tun. Aus seinem Mund klang es so schmutzig und abstoßend, und Vincent, er versuchte, versuchte …« Sie schlug sich die Hand vor den Mund und schluckte einige Male schwer. Schließlich atmete sie einmal tief durch und ließ ihre Hand sinken. Sie zwang sich weiterzusprechen. »Er versuchte, wollte, dass ich … Vincent, er sagte, ich soll auf die Knie und …« Gestern wäre es ihr nicht schwer gefallen, die Worte auszusprechen; jetzt konnte sie sich nicht dazu überwinden. Sie packte sein Hemd noch fester und sah ihn flehend an.
»Er wollte dich zum Oralverkehr zwingen.«
Sie nickte schwach. »Er sagte, du würdest mir die Schuld geben.«
Vincent zuckte zusammen, so, wie er sich ihr gegenüber in der letzten Zeit verhalten hatte, musste sie das völlig verunsichert haben. »Nein«, sagte er mit fester Stimme. Er schob die Decke von ihrer Brust und strich sanft über die blutigen Kratzer und ihre verletzte Brustwarze. »Und das …?« Dann bedeckte er sie wieder.
Stotternd erzählte sie es ihm. Stück für Stück erfuhr er die ganze Geschichte. Das war eine ganz neue Erfahrung für ihn, die Geschichte des Opfers aus dem Mund einer Frau, mit der ihn eine persönliche Beziehung verband. Wie konnte er da angesichts ihres Schreckens, ihres Leids objektiv bleiben? Vollkommen überrascht vernahm er, dass sie das Skalpell an Griffus’ Hals gehalten hatte – er hatte nichts davon bemerkt, als er auf sie zugestürmt war. Zunächst verstand er nicht, warum sie dem Kerl nicht einfach die Kehle aufgeschlitzt hatte, als sie die Möglichkeit dazu hatte – das Schwein hatte ihr Grund genug gegeben, ihn ins Jenseits zu befördern.
Als er dann jedoch in Ruhe darüber nachdachte, erkannte er, dass genau das Ivy Jayne Pennington ausmachte. Er dachte an ihre Hingabe gegenüber ihrem Beruf, ihre persönliche Integrität, und er war froh, dass nicht sie es war, die
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