Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
gefiel. Sie wollte nichts davon wissen, ins Stadtpalais nach Wien zu ziehen. Starrsinnig beharrte sie darauf, auf Heidebrock zu wohnen, und der Gatte gab nach. Vermutlich dachte er, dass nach so langer Zeit keine Gefahr mehr bestünde.
Doch weit gefehlt!
Kaum war die junge Herrin eingezogen, flüsterte man in den Dörfern rundum von seltsamen Erscheinungen. Ein Bauer berichtete, dass eine Frau in altmodischer Tracht plötzlich am Wegrand gestanden sei, als er nachts vom Dorf Dürnstätten nach Heidebrock fuhr. Sie war lieblich anzusehen, mit einem Mantel aus blondem Haar und liebreizenden Zügen. Aber ihre Augen glühten in der Dämmerung wie die einer Katze, und ihr Mund leuchtete blutig rot. Dem Bauern wurde bang, und er rief die Heilige Walburga an, die Nothelferin gegen bösen Zauber. Da sprang die schöne Frau auf ihn los, fauchte und spuckte und schlug ihn so mächtig mit der Hand ins Gesicht, dass seine Wange tagelang geschwollen blieb.
Die jungen Mädchen wollten nachts nicht mehr vor die Tür gehen. Sie wagten sich nicht einmal von der Stube bis in den Stall – aus Furcht, die geisterhafte Gräfin könnte sie anfallen. Viele berichteten, dass in der Nacht Fingernägel an den Scheiben ihrer Fenster kratzten und eine liebliche Stimme ihnen Lockungen zuflüsterte. »Kommt heraus, ich habe schöne Dinge für euch«, zischelte sie. »Ich habe goldene Bänder, Spiegelchen und Kämme, kommt nur heraus und holt sie euch!« Der Groll unter dem Landvolk wuchs mit jedem Tag. Schließlich bestand der Graf darauf, dass seine junge Frau in die Stadt zog, und augenblicklich hatten die Belästigungen ein Ende.
»Deshalb«, sagte Bühler, »sind wir auch nur zu dritt hier, ich, mein Sohn Carl und der junge Werner.«
Das überraschte Jan und Julia. Sie hatten beide angenommen, der blasse, seltsame junge Mann sei der Sohn des Verwalters. Sie erfuhren jedoch, dass er ein unehelicher Sohn des letzten von Weldern war, der auf der Burg gehaust und ein Mädchen aus dem Dorf zur Geliebten gehabt hatte. Sie lohnte ihm allerdings seine Liebe schlecht.
»Sie packte eines Tages eine Menge Familiensilber in eine Tasche und brannte mit dem Vertreter einer Weinhandlung durch, der alle Vierteljahre auf die Burg kam.« Bühler paffte nachdenklich an seiner Pfeife, dann setzte er hinzu: »Die Leute in der Umgebung sind überzeugt, dass der alte Vertrag immer noch Gültigkeit hat und Gräfin Samantha aus ihrem Todesschlaf aufstehen kann, sobald eine Frau Herrin auf der Burg ist. Deshalb schütteln so viele Leute die Köpfe darüber, dass Herr von Weldern seine Verlobte hierher bringen will. Etliche haben mir schon gesagt, dass sie entschlossen sind, von hier wegzuziehen, sollte die junge Dame Burgfrau werden.« Dann kam er wieder auf Werner zu sprechen. »Er ist seltsam. Nicht gerade schwachsinnig, aber – nun, sagen wir: geistesabwesend. Er wandert oft den ganzen Tag und die halbe Nacht in der Burg herum und redet vor sich hin. Die Leute im Dorf behaupten, er spreche mit den Geistern der verstorbenen Burgherren.« Er wandte sich an Julia. »Sie dürfen nicht erschrecken, wenn Sie ihn antreffen. Er tut niemand etwas zu Leide.«
Als hätte das Gespräch ihn heraufbeschworen, tauchte Werner in der Tür auf. Er gab mit leiser, lispelnder Stimme bekannt, dass er die Gepäckstücke ins Gästezimmer gestellt hatte. Bühler dankte ihm freundlich, aber der Junge huschte davon, geduckt und ängstlich, als habe er ihn bedroht.
Julia lächelte verkrampft. Das wird ja immer schöner! , dachte sie. Nicht nur, dass die Schatten einer furchtbaren Vergangenheit auf diesem öden Gemäuer lasteten, spukte auch noch ein halb verrückter Junge darin herum!
* * *
Nachdem sie gegessen hatten, wollte Joschka Bühler ihnen das Schloss zeigen. Julia und Jan beobachteten überrascht, wie er eine starke Stablampe von einem Regal nahm und ihnen damit den Flur entlang leuchtete. Bühler erklärte ihnen, der letzte Schlossherr sei ein Einsiedler gewesen, der nur ein einziges Zimmer benutzte. Den Rest des Schlosses habe er verfallen lassen. Es gäbe im Schloss zwar elektrisches Licht, aber nur im Wappenturm sei es zu gebrauchen. In den übrigen Teilen des Schlosses seien die Leitungen so alt und reparaturbedürftig, dass es gefährlich sei, Lampen anzuschließen. Deshalb benutzten sie batteriebetriebene Stablampen und Laternen, wenn sie in den unbewohnten Teilen des Schlosses zu tun hatten.
Heidebrock bot einen trostlosen Anblick. Die meisten Räume waren nur
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