Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
zu. »Es ist mehr als nur eine Geschichte. Aber das werden Sie schon selber herausfinden, wenn Sie erst auf Heidebrock sind. Und dann wird Ihnen das Lächeln vergehen!« Damit ließ er sie allein.
Jan blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Hier sind anscheinend alle ein bisschen schrullig. Ich hätte nicht gedacht, dass sie diese alten Schauergeschichten so ernst nehmen. Hoffentlich ist der Verwalter nicht auch ein Sonderling. Vielleicht ist er ein buckliger Greis in schwarzen Kleidern und mit einem ellenlangen, weißen Bart?«
* * *
Davon konnte allerdings keine Rede sein. Joschka Bühler war ein kräftig gebauter Mann, etwa fünfzig Jahre alt, mit einem grauen Bürstenhaarschnitt und einem Schnauzer. Seine tief gebräunte Haut verriet, dass er sich viel im Freien aufhielt. Seine blauen Augen hatten einen freundlichen, offenen Blick. Er trug auch keine schwarze Kleidung, sondern eine grüne Lodenjoppe mit Jägerhut und eilte den Gästen entgegen, kaum dass der Zug in der winzigen Station angehalten hatte. »Da sind Sie ja! Herzlich willkommen! Mein Wagen steht da drüben, kommen Sie, Sie fahren mit mir. Werner bringt das Gepäck aufs Schloss.«
Dabei deutete er auf einen jungen Mann, der einige Schritte entfernt stand und die Ankömmlinge mit neugierigen Blicken betrachtete. Er war klein und schmächtig, mit einem dicken Schopf brauner Haare, und machte einen seltsamen Eindruck. Als sie ihn freundlich grüßten, antwortete er nicht, sondern ergriff stumm ihre Taschen.
Julia fiel ein Stein vom Herzen, als sie merkte, dass der Verwalter offenbar ein vernünftiger und freundlicher Mann war. Sie glitt rasch auf den Sitz im Fond des Wagens. Jan folgte ihr.
Joschka Bühler fuhr eine Forststraße entlang, die sich in weiten Kurven immer tiefer in den düsteren Tannenwald hineinschlängelte. Einmal ging es an einem Steinhaufen am Straßenrand vorbei. »Das ist das äußere Tor des alten Klosters«, erklärte ihnen Bühler. »Die Gebäude selbst liegen tiefer im Wald. Viel ist nicht mehr übrig. Als das Kloster aufgegeben wurde, holten sich die Bauern aus der Umgebung die Steine, um ihre Häuser auszubessern. Nur die Grabkapelle steht noch. Die wagte niemand anzurühren. Auch wenn der Bischof Severin schon längst zu Staub zerfallen ist, haben die Leute immer noch großen Respekt vor ihm.«
Julia erinnerte sich an die Geschichte in dem alten Buch. »Ist das der Bischof, der die Vampirgräfin lebendig einmauern ließ?«
»Ah, Sie haben von der Geschichte gehört? Ja, das ist er. Er war ein gewaltiger Mann – in jeder Hinsicht. Fast zwei Meter groß, mit Fäusten wie Schmiedehämmer und einem mächtigen weißen Bart. Die Leute hoffen, dass er sie auch weiterhin vor Gräfin Samantha beschützt, solange sein Grabmal existiert.«
Jan schüttelte den Kopf und lachte. »Sie wollen doch nicht sagen, dass die Leute heute noch Angst vor der Vampirgräfin haben? Es gibt ja eine Menge Schauergeschichten über mittelalterliche Burgen, aber das ist alles Vergangenheit. Auf den Burgen Aggstein und Greifenstein an der Donau saßen üble Raubritter, die reisende Kaufleute ausplünderten und ermordeten. Trotzdem fürchtet sich heute niemand mehr, diese Burgen zu besuchen.«
Bühler schüttelte den Kopf. »Hier ist das anders. Vielleicht, weil wir hier in einem so versteckten Winkel der Welt wohnen. Die alten Geschichten haben sich lebendig erhalten. Aber da sind wir ja schon! Bitte, der erste Blick auf Schloss Heidebrock in all seiner Pracht!«
Er hielt den Wagen auf einem Straßenstück an, von dem sich tatsächlich ein prächtiger Blick auf die altertümliche Festung bot. Burg Heidebrock war ein einfaches Gebäude – ein langes und breites Haupthaus mit zwei kurzen Seitenflügeln. An den Ecken erhoben sich die vier Türme mit runden Dächern und hohen, schmalen Fensterschlitzen. Ein Burggraben umgab die Anlage. Man sah ihm freilich an, dass er schon lange nicht mehr genutzt wurde. Teils war er zugeschüttet, teils halb voll mit schmutzigem Wasser, auf dem Wasserpfeffer, Tausendblatt und Laichkraut schwammen. Gänse paddelten darauf herum. Zum Burgtor führte eine Zugbrücke, die schon seit einem Jahrhundert nicht mehr aufgezogen worden war, so verrostet waren die gewaltigen Ketten. Auch das Fallgitter über dem Burgtor war eingerostet. Nur das Tor selbst, das aus beschnitzter Eiche gefertigt und mit breiten Eisenbändern beschlagen war, hielt noch unwillkommene Gäste fern.
* * *
Julia blickte sich unbehaglich nach allen Seiten
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