Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
schneeweiß, mit Fingernägeln, die so lang gewachsen waren, dass sie sich aufgerollt hatten. Ich erinnerte mich. Die Chronik der Burg berichtet: Als die Diener die Leiche der Gräfin Samantha in die Gruft hinunter trugen, war sie nur in ein Leichentuch gehüllt, barfuß und in dem zerschlissenen, blassgrünen Nachthemd, in dem sie gestorben war. Ihr Haar war lang und weiß und hing ihr um den Kopf wie Spinnweben. Ihre Fingernägel waren so lang gewachsen, dass sie sich aufrollten. Sie trug alle ihre Juwelen.«
Jan zeigte sich skeptisch. »Nun ja, ein wolliges Ding und ein Gespinst, das kann alles Mögliche gewesen sein, und die Hände haben Sie sich in Ihrem Schrecken vielleicht nur eingebildet.«
»Möglich«, antwortete Bühler. »Aber das waren nicht die einzigen Gelegenheiten. Ein Erlebnis werde ich nie vergessen. Ich hatte damals einen Wachhund, einen Rottweiler, der sich vor nichts und niemandem fürchtete. Für gewöhnlich war er immer an meiner Seite. Aber eines Tages war er plötzlich verschwunden. Ich rief nach ihm – und da hörte ich ihn schreien. Nicht bellen oder jaulen, sondern vor Angst und Entsetzen wie einen Menschen schreien! Ich rannte dem Lärm nach und sah, dass er mit etwas Unsichtbarem kämpfte – um sein Leben kämpfte! Seine Kehle war voll Blut, und auf seinen Flanken zeichneten sich tiefe, schreckliche Wunden wie von den Klauen einer Raubtieres ab. Ich zog meinen Revolver und schoss. Der Schuss tötete das arme Tier auf der Stelle. Als ich mir später den Kadaver ansah, war ich froh, dass ich ihn erlöst hatte – sonst wäre er unter Qualen verendet. Sehen Sie, er war nicht nur verwundet, sondern auch auf eine abnormale Weise vergiftet. In den Wunden schimmerte es grün wie Phosphor – und das Schlimmste war, dass ich im Halbdunkel des Korridors sah, wie diese Wunden im Dunkeln leuchteten!
Danach nahm ich mir keinen Hund mehr. Es wollte auch keine Katze im Haus bleiben, solange Werners Mutter hier wohnte. Ich habe in all den Jahren auch nie eine Ratte oder Maus auf Heidebrock gesehen. Aber ich sollte Ihnen das alles nicht erzählen, vielleicht ist alles nur Zufall, und ich erschrecke Sie unnötig. So! Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Zimmer. Sie werden sicher müde sein und früh zu Bett gehen wollen. Morgen machen wir uns dann an die Arbeit.«
* * *
Bühler öffnete die Tür in einen großen runden Raum, in dessen Wänden zwei hohe Fenster prangten. Ein mächtiges Himmelbett stand darin. Ansonsten gab es nur wenige Möbel. Neben dem Fenster stand ein altmodisches Spielzeug – ein hölzernes Karussell. Julia drehte neugierig die Kurbel, und sofort ertönte eine Leierkastenmelodie, während die Pferdchen im Kreis liefen.
Als die Musik verklungen war, merkte Julia, wie still es im Hause war. Sie waren nur fünf in diesem riesigen alten Gemäuer – sofern Bühlers Sohn überhaupt anwesend war! Ein Gefühl der Beklemmung überkam sie. Wie sollte sie sechs Wochen in diesem deprimierenden Gefängnis aushalten?
Jan dagegen lachte und scherzte, während er sich auszog und im Pyjama in das frisch bezogene Himmelbett schlüpfte. »Ist das nicht herrlich?«, rief er. »Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals in einem Himmelbett schlafen würde. Und riech nur, wie gut die Luft hier ist! Ein herrlicher Urlaub, der uns keinen Pfennig kostet.«
Julia wollte nicht mit ihm streiten. Sie zog sich rasch aus und kroch ins Bett.
Schneller, als sie erwartet hatte, schlief sie ein. Sie träumte, dass sie einen endlos langen Flur entlangging. Jeder Schritt brachte sie näher an eine Tür heran, die sich halb hinter einem schweren grünen Brokatvorhang verbarg. Aus einem waagrechten Schlitz knapp über dem Boden leuchtete ein schwaches, violettes Licht hervor, das sie magisch anzog. Schließlich hatte sie die Tür erreicht. Von einem inneren Zwang getrieben kniete sie nieder und schob die Hand durch den Spalt. Und da fühlte sie, wie diese von einer anderen gepackt wurde! Eine eiskalte, knochige Klaue war es, mit langen, scharfen Nägeln! Julia schrie im Schlaf – schrie und schrie ... und wachte auf.
Mit klopfendem Herzen saß sie aufrecht im Bett. Jan schlief tief und fest neben ihr. Die Nacht war weit fortgeschritten. Julia konnte den Mond sehen, der von einem dunstigen Schimmer umgeben über den Feldern schwebte. Ein Tier schrie heiser und durchdringend. Julia legte sich wieder hin und wartete, dass ihr Herz regelmässiger zu pochen begann. Die Hand, die sie im Traum in den Schlitz gesteckt hatte,
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