Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
waren, als das junge Paar mit seinen Koffern und Taschen einstieg. Erst allmählich kamen weitere Mitreisende dazu, als der Zug an einer Haltestelle nach der anderen hielt.
Julia fühlte ein wachsendes Unbehagen. Mit jeder Haltestelle wurde die Landschaft düsterer. Die Felder wichen zurück. Der dichte Wald rückte näher an die Gleise heran. Erst waren die Stationen in kleinen Weilern gelegen, wo sich ein Dutzend Bauernhäuser aneinander drängte. Aber schließlich bestanden sie nur noch aus kleinen Holzhütten mitten im wilden Forst. Julia schauderte, als sie daran dachte, wie einsam das Schloss lag.
Zu dumm, dass sie keinen Wagen mehr hatten! Aber als Jan arbeitslos wurde, hatten sie sich das Auto nicht mehr leisten können. Dann versuchte sie, sich damit zu trösten, dass der Verwalter gewiss ein Fahrzeug hatte. Auch Markus von Weldern würde sicher mit dem Auto anreisen. Er hatte vor, mit seiner Verlobten Elsa Bocken nach Heidebrock zu kommen. Was diese wohl von dem Aberglauben hielt, dass die Vampirgräfin aus ihrem untoten Schlaf erwachte, sobald eine Frau als Herrin auf Heidebrock wohnte? Wahrscheinlich lachte sie darüber. Jan hatte seiner Frau erzählt, dass Elsa eine moderne junge Frau von dreiundzwanzig Jahren und bereits Chefin einer Kette von Luxusboutiquen war. Nein, Elsa Bocken war sicher nicht der Typ, der sich von mittelalterlichen Gruselgeschichten aus einer Burg vertreiben ließ!
Julia machte eine Bemerkung darüber zu Jan. Er nickte sofort. »Weißt du, ich glaube, Elsa will Markus nicht zuletzt deswegen heiraten, weil er von Adel ist. Das soll natürlich nicht heißen, dass sie ihn nicht liebt – aber es ist ihr doch sehr wichtig. Ihr Großvater war ein kleiner Schneidermeister, und ein Adelstitel ist das Höchste für sie. Sie protzt jetzt schon vor allen ihren Freunden damit, dass sie auf einer echten Adelsburg wohnen wird.«
Sie wurden vom Schaffner unterbrochen, der »Jemand zugestiegen?« durch den Wagen rief. Als er ihre Fahrkarten kontrollierte, warf er ihnen einen merkwürdigen Seitenblick zu. »Sie wollen nach Heidebrock? Das kommt nicht oft vor, dass jemand zu dem alten Steinhaufen fährt. Und obendrein eine junge Frau!«
»Die Burg liegt ziemlich einsam, nicht wahr?«, fragte Julia. Der Ausdruck »alter Steinhaufen« ließ Schlimmes erahnen. Vielleicht hatte sie mit ihrem ersten Verdacht doch Recht gehabt und Heidebrock war kaum besser als eine Ruine!
»Kann man sagen.« Der Schaffner gab ihnen die Fahrkarten zurück. »Und wenn Sie mich fragen, das ist gut so. Niemand sollte in die Nähe des Schlosses kommen. Das ist ein verfluchter Ort. Der junge Herr, der es geerbt hat, sollte es am Besten bis auf die Grundmauern abreißen lassen – und schon gar nicht mit seiner Verlobten dorthin fahren.«
»Warum denn das?«, mischte sich Jan in das Gespräch. Um mehr zu erfahren, stellte er sich unwissend. »Was ist damit nicht in Ordnung?«
Der Schaffner zuckte die Achseln. »In alter Zeit sind dort furchtbare Dinge passiert, und seither liegt ein Fluch auf dem Schloss.« Dann wandte er sich direkt an Julia. »Sie sollten nicht dort hinfahren. Heidebrock ist ein gefährlicher Ort für Frauen.«
Julia fröstelte. Um ihre Furcht abzuschütteln, lachte sie und fragte betont forsch: »Wegen der alten Vampirgräfin? Die ist doch längst zu Staub zerfallen.«
»So? Meinen Sie?«, fragte der Schaffner scharf. Offensichtlich ärgerte er sich über ihren spöttischen Ton. »Es ist noch keine fünf Jahre her, dass man sie wie einen hungrigen Wolf umherstreifen gesehen hat, weil sich der alte Graf in ein Mädchen aus dem Dorf verknallte und dieses auf die Burg brachte. Und das, obwohl das Mädel eine Bauernmagd und nur das Betthäschen des Alten war! Freilich, Samanthas Kraft war gering und sie hat nicht viel Schaden anrichten können. Aber wenn eine Frau als Herrin dorthin käme, dann würde auch Gräfin Samantha wieder zu vollem Leben erwachen und mit ihrem Gefolge von Untoten über das Land herfallen. Man hätte ihr einen Pfahl durchs Herz treiben und den Kopf abschlagen sollen, wie es sich gehört. Dann wäre ihre Seele zur Hölle gefahren und der Leib zu Staub zerfallen. Aber sie wurde in die Familiengruft gelegt, weil ihre Verwandten darauf bestanden. Und so ist es möglich, dass sie aus ihrem Sarg aufsteht und die armen Landleute quält, wie sie es früher getan hat.«
Jan lächelte unsicher. »Das klingt nach einer schaurigen Geschichte.«
Der Schaffner warf ihm einen bösen Blick
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