Unter Freunden
habe ich in der Zeitung gelesen, gibt es heute, mehr als zehn Jahre nach der Atombombe, noch immer keine Vögel.«
Luna sagte: »Alles Leid der Welt lädst du dir auf deine Schultern.«
Und sie sagte auch: »Auf einem niedrigen Zweig vormeinem Fenster habe ich vorgestern einen Wiedehopf gesehen.«
So fingen sie an, sich regelmäßig in den frühen Abendstunden zu treffen. Sie saßen zusammen auf einer der Bänke in den Anlagen im Schatten einer dichten Bougainvillea, oder sie tranken Kaffee in Lunas Zimmer. Wenn er um vier von der Arbeit nach Hause kam, duschte er, kämmte sich vor dem Spiegel, zog seine gebügelte Khakihose und das hellblaue Hemd an und ging zu ihr. Manchmal brachte er ihr ein paar Blumenstecklinge für ihren kleinen Garten mit und einmal auch einen Band mit einer Auswahl von Gedichten von Jakob Fichmann. Sie schenkte ihm eine Tüte mit Mohnkeksen, außerdem eine Zeichnung von einer Bank vor zwei Zypressen. Doch schon um acht oder halb neun pflegten sie sich zu trennen. Zvi kehrte dann in sein mönchisches Zimmer zurück, in dem immer ein schwerer Junggesellengeruch hing. Roni Schindlin witzelte im Speisesaal: »Der Todesengel sinkt hernieder auf die schwarze Witwe.« Im Clubraum mit den Zeitungen sagte Ruvke Rot halb spöttisch, halb liebevoll zu Zvi: »Na, hat die Hand nun einen Handschuh gefunden?«
Doch Zvi und Luna ließen sich von dem Gerede undden Sticheleien nicht beirren. Das Band zwischen ihnen verstärkte sich nahezu von Tag zu Tag. Er vertraute ihr an, dass er in seiner freien Zeit, allein in seinem Zimmer, einen Roman des Schriftstellers Iwaszkiewicz aus dem Polnischen ins Hebräische übersetze. Ein Roman reich an Zartgefühl und Leid. Unser Dasein hier in der Welt erscheine diesem Schriftsteller absurd und zugleich herzergreifend. Luna lauschte ihm mit geneigtem Kopf, mit leicht geöffnetem Mund, und goss ihm noch etwas heißen Kaffee ein, als wären seine Worte ein Beweis dafür, dass er Trost benötigte und verdiente, und als könnte der Kaffee ihn etwas für das Leid des Schriftstellers Iwaszkiewicz und für sein eigenes Leid entschädigen. Sie spürte, dass die Beziehung zwischen ihnen ihr kostbar war und ihre Tage ausfüllte, die bis dahin flach und eintönig gewesen waren. Eines Nachts träumte sie, dass sie beide zusammen auf einem Pferd saßen, ihre Brüste drückten gegen seinen Rücken, ihre Arme umschlangen seine Hüften, und sie ritten durch ein Tal zwischen hohen Bergen an einem aufgewühlt schäumenden Wildbach entlang. Sie beschloss, Zvi diesen Traum nicht zu erzählen, obwohl sie ihm andere Träume ausführlich und ohne Scheu erzählt hatte. Zvi seinerseits blinzelte und erzählte, dass er in seiner Kindheit, in dem Städtchen Janów in Polen, davon geträumt hatte, Student zu werden. Doch dann sei er von der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung mitgerissen worden, habe sich den Chaluzim , den Pionieren, angeschlossen und auf ein Studium verzichtet. Trotzdem habe er nie aufgehört, aus Büchern zu lernen.
Luna pickte vorsichtig zwei Krümel von der Tischdecke und sagte: »Du warst ein sehr schüchterner Junge. Auch jetzt bist du noch ein bisschen schüchtern.«
Zvi sagte: »Du kennst mich nicht richtig.«
Luna sagte: »Dann erzähl. Ich höre.«
Und Zvi erzählte: »Heute Nacht habe ich im Radio gehört, dass in Chile ein Vulkan ausgebrochen ist. Vier Dörfer wurden völlig unter den Lavaströmen begraben. Den meisten Bewohnern ist es nicht gelungen zu entkommen.«
Eines Abends, als er ihr mit flammenden Worten von der Hungersnot im Osten Afrikas berichtete, wurde ihr das Herz heiß, sie ergriff plötzlich seine Hand und zog sie auf ihren Schoß. Zvi erzitterte und riss eilig, mit einer fast gewaltsamen Bewegung, seine Hand zurück. Er begann heftig zu blinzeln. Sein ganzes Leben lang hatte er andere nicht berührt und erschauerte, wenn er berührt wurde. Er liebte es, aufgelockerte Erde oderzarte Pflanzenstängel zu berühren, aber die Berührung fremder Menschen, seien es Männer oder Frauen, ließ ihn zurückschrecken, als hätte er sich verbrannt. Immer hatte er jedes Händeschütteln vermieden, Schulterklopfen, das zufällige Streifen von Armen, wenn er sich im Speisesaal an den Tisch setzte. Kurz darauf erhob er sich und ging. Am nächsten Tag ließ er sich nicht bei ihr sehen, denn er fing an zu fürchten, dass die Beziehung zwischen ihnen offenbar unvermeidlich zu unglücklichen Situationen führen würde, die er nicht wollte und sogar
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