Unter Freunden
Feierabendsachen an, eine beigefarbene Bluse, einen glatten Baumwollrock und leichte Sandalen. Sie trank eine Tasse Kaffee, schnitt zwei Birnen in exakt gleich große Schnitze und aß sie langsam, spülte ihre Tasse und den Teller, trocknete sie ab und räumte sie wieder in den Geschirrschrank. Die Fenster und die Fensterläden waren wegen des Wüstenwindes geschlossen, die Vorhänge waren zugezogen. In der Wohnung war es dämmrig, und von dem geputzten Boden stieg ein angenehmer Geruch von Sauberkeit auf. Das Radio machte sie nicht an, weil sie sich über die blasierten Stimmen der Nachrichtensprecher ärgerte. Sie sprachen immer, als wüssten sie alles. Dabei, dachte Henja, wusste keiner etwas. Keiner liebte mehr seinen Nächsten. Am Anfang, in der ersten Zeit nach der Gründung des Kibbuz, waren alle eine Familie. Es stimmte, auch damals gab es zuweilen Zerwürfnisse, aber wir standen uns nahe. Jeden Abend saßen wir zusammen und sangen bis tief in die Nacht Lieder voller Leidenschaft und Sehnsucht. Und in den Nächten schliefen wir gemeinsam in Zelten, und wenn jemand im Schlaf sprach, hörten wir alle, was er sagte. Heute wohnen alle in getrennten Wohnungen, und einer krallt die Fingernägel in den anderen. Wenn du im Kibbuz von heute noch auf den Beinen stehst, warten alle darauf, dass du hinfällst, und wenn du hingefallen bist, dann stürzen sie herbei und wollen dir hochhelfen. Bronja ist ein Scheusal, nicht ohne Grund nennt der ganze Kibbuz sie Scheusal.
In Gedanken schrieb Henja einen Brief an ihren jüngeren Bruder Arthur, der seit einigen Jahren in Italienlebte und dort durch Geschäfte reich geworden war. Sie wusste nicht, welcher Art seine Geschäfte waren, aber sie hatte verschiedenen Hinweisen entnommen, dass es sich um Ersatzteile für Maschinen handelte, mit denen Waffen hergestellt wurden. 1947, am Vorabend des Unabhängigkeitskrieges, war Arthur von der Hagana nach Italien geschickt worden, mit Zustimmung der Vollversammlung des Kibbuz, um dort in geheimer Mission Waffen und Maschinen zur Waffenproduktion für den Staat zu organisieren, der noch nicht geboren war. Nach dem Unabhängigkeitskrieg zögerte er seine Rückkehr aus Italien immer weiter hinaus, ignorierte den Zorn der Kibbuzgemeinschaft und die Rüge der Vollversammlung, bis er schließlich seinen Austritt aus dem Kibbuz verkündete und sich in einem Vorort von Mailand niederließ, um von dort aus das Netz seiner Geschäfte weiterzuspinnen, die nach wie vor irgendwie im Dunkeln blieben. 1951 hatte er Henja ein Foto von sich und seiner neuen Frau geschickt, die fünfzehn Jahre jünger war als er, eine Italienerin, die auf dem Bild sanft und etwas geheimnisvoll wirkte, weil ihre dichten schwarzen Haare ihre Augen verschatteten und eine ihrer Wangen zusätzlich von ihrer Hand verdeckt wurde. Ein paarmal hatte er Henja auch kleine Geschenke gesandt.
Vor zwei Wochen war ein Brief von Arthur eingetroffen, in dem er anbot, Jotam ein Maschinenbaustudium am Polytechnikum in Mailand zu finanzieren. Jotam könne bei ihm und Lucia wohnen, sie hätten ein geräumiges Haus, und er, Arthur, würde vier Jahre lang für Jotams Studium und Lebensunterhalt aufkommen. Sag ihnen dort im Kibbuz, hatte Arthur geschrieben, dass ich ihnen viel Geld spare, denn wenn Jotam an der Reihe wäre, müssten sie ihm ohnehin ein Studium bezahlen. Mit dem ersparten Geld könnten sie einen anderen jungen Mann zum Studium schicken. Und auch dich, Henja, hatte er noch geschrieben, werde ich ein- oder zweimal im Jahr zu uns einladen.
Einmal, als Jotam ungefähr sechs Jahre alt gewesen war, war sein Onkel Arthur zu Besuch gekommen. Er fuhr ein Motorrad der Hagana und drehte mit Jotam eine Runde durch den Kibbuz. Alle anderen Kinder hatten ihm voller Neid und Bewunderung zugeschaut, wie er sich fest an den kräftigen Rücken des Onkels geklammert hatte. Danach hatte ihn sein Onkel, der einen angenehmen, scharfen Geruch von Pfeifentabak verströmte, hochgehoben und gesagt: »Du sollst wachsen und gedeihen und ein guter Soldat werden.«
Jotam war ein braungebrannter, kräftiger Junge, kleinund stämmig, mit einem runden Kopf und kurzrasierten Haaren. Er hatte große, breite und sehr starke Hände. Sein Gesicht war nicht schön, aber wenn man ihn ansprach, wurde es von einem sanften Staunen überzogen, als löste jedes Wort bei Jotam Verblüffung aus. Ein abgebrochener Schneidezahn und seine Ringerstatur verliehen ihm ein streitlustiges Aussehen. Aber im Gegensatz zu seiner
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