Unter Freunden
ihn nun statt Mut und Begehren ein Gefühlder Traurigkeit? Er bog leise um die Ecke und blieb kurz an der Eingangstür stehen, lauschte angestrengt und hörte nur das Rascheln des Windes in den Kiefern. Dann setzte er sich auf die Stufen vor der Tür, nahm seine Wollmütze ab und wartete, ohne sich zu rühren. Ungefähr eine halbe Stunde lang saß er so da und spürte, dass ihm etwas fast klarwurde, doch was es war, das wusste er nicht. Ein Schakal heulte in der Finsternis, und andere antworteten ihm verzweifelt aus der Richtung der Obstplantagen. Er nahm die Waffe, sein Finger fand den Abzugshahn, und nur mit einem letzten Rest Vernunft gelang es ihm, den Drang zu unterdrücken, in die Luft zu schießen und mit einer Gewehrsalve die Stille zu zerreißen.
Gegen halb vier erhob er sich und machte sich auf den Weg, um die Melker für die Frühschicht zu wecken. Dann machte er noch eine Runde entlang des Zaunes, ging quer über den Rasen zurück zum Speisesaal und schaltete dort den großen Wasserkessel für die Frühschicht an. Die Sonne würde erst nach sechs aufgehen. Sein Wachdienst endete um fünf, davor musste er noch einige Leute wecken, die auf seiner Liste standen. Es war sinnlos, auf den Sonnenaufgang zu warten, weil er ohnehin hinter der dichten Wolkendecke stattfindenwürde. Er würde nach Hause gehen, duschen, sich hinlegen, die Augen zumachen und versuchen zu schlafen. Vielleicht würde ihm morgen endlich etwas klarwerden.
D eir Adschlun
E s war ein heißer, drückender Wüstenwindtag. Über uns wölbte sich ein schmutziggrauer Himmel, als hätte sich die Wüste erhoben und hinge nun über unseren kleinen Häusern. Feiner Sandstaub lag in der Luft, der sich auf der verschwitzten Haut von Stirn und Armen festsetzte und sie mit einer klebrigen, hellen Schicht bedeckte. Henja Kalisch, eine sechzigjährige Witwe, ging in der Mittagspause duschen. Sie verweilte einige Minuten lang unter dem starken Strahl kalten Wassers. Ihre Lippen waren immer fest zusammengepresst, und zwei bittere Falten zogen sich von ihren Mundwinkeln hinunter. Ihr Körper war kantig und flach wie der eines mageren Jungen, und ihre Beine waren überzogen von einem Netz blauer und rosafarbener Adern. Das kalte Wasser spülte den Staub ab und erfrischte ihre Haut, linderte aber nicht ihre bedrückte Stimmung. Nach dem Duschen trocknete sie sich mit wütenden Bewegungen ab, zog ihre graue Arbeitsbluse und die dunkelblauen Arbeitshosen wieder an und kehrte mit energischen Schritten zu ihrer Arbeit in der Kibbuzküche zurück. Sie hattevor, noch an diesem Abend mit Joav Karni zu sprechen, dem Kibbuzsekretär, mit David Dagan, dem Lehrer, mit Roni und Lea Schindlin und mit weiteren einflussreichen Kibbuzmitgliedern, um ihre Unterstützung für die bei der Vollversammlung am Samstagabend anstehende Abstimmung zu gewinnen. Bronja und sie saßen auf der Küchenveranda auf ihren Hockern einander gegenüber und schnippelten schweißüberströmt Gemüse in einen großen Topf.
Bronja sagte: »Ihr braucht das gar nicht erst der Versammlung vorzuschlagen, Henja. Man wird euch den Kopf abreißen.«
Henja erwiderte: »Aber das ist doch eigentlich gut für alle. Es wird dem Kibbuz ermöglichen, die Warteliste für Studienanwärter zu kürzen.«
Bronja lachte auf und erklärte: »Dein Jotam ist hier nicht privilegiert. Keiner ist hier privilegiert. Außer den Privilegierten.«
Henja versuchte bei Bronja vorzufühlen, während sie den Schalenhaufen wegbrachte und einen neuen Korb Gemüse zwischen sie stellte: »Zumindest du, Bronja, wirst doch bei der Versammlung am Samstagabend für Jotams Antrag stimmen? Du wirst uns unterstützen, oder?«
»Wirklich? Warum sollte ich für ihn stimmen? Was war denn, als mein Selig vor sechs Jahren darum gebeten hat, für die Arbeit im Weinberg eingeteilt zu werden, habt ihr ihn da unterstützt? Ihr habt alle dagegen gestimmt. Alle Heuchler und Selbstgerechten zusammen. Später, bei seiner Beerdigung, habt ihr schöne Reden geführt.«
Henja sagte: »Der Topf ist schon voll. Man muss einen neuen anfangen.«
Dann sagte sie: »Mach dir keine Sorgen, Bronja. Auch ich habe ein langes Gedächtnis. Ein sehr langes.«
Die beiden Witwen fuhren fort, Gemüse zu schälen und kleinzuschneiden, in abgrundtiefem Schweigen und mit funkelnden Messern.
Nach der Arbeit kehrte Henja Kalisch in ihre Wohnung zurück, nahm wieder eine kalte Dusche und wusch sich ihre grau werdenden Haare. Diesmal zog sie nach dem Duschen ihre
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